«Für die Zukunft ist es wichtig, dass der Dialog zwischen der Sozialen Arbeit und dem Gesundheitswesen noch intensiviert wird.»

posted on 25 Sep 2021

Ein­sam­keit macht krank: Wer sozial iso­liert ist, hat ein erhöh­tes Risi­ko, früh­zei­tig zu ster­ben. Wes­halb eigene Hand­lungs­stra­te­gien im Umgang mit Ein­sam­keit wich­tig sind, ein enger Aus­tausch zwi­schen Fach­leu­ten des Gesund­heits­we­sens und der Sozia­len Arbeit sinn­voll wäre und was wir alle gegen Ein­sam­keit in unse­rem eige­nen Umfeld tun kön­nen, dar­über äus­sern sich die bei­den Schwes­tern Lucia Lan­fran­co­ni, Sozi­al­for­sche­rin und Pro­fes­so­rin an der Hoch­schule Luzern, und Romana Lan­fran­co­ni, Pro­du­zen­tin und Regis­seu­rin des Films «Ein­sam­keit hat viele Gesich­ter», im Inter­view.

Text: Eva Zwahlen
Fotos: zvg

Lucia Lan­fran­co­ni, im Alter nimmt Ein­sam­keit oft zu, sei es, weil man allein­ste­hend ist oder die Pflege von Freund­schaf­ten im Laufe der Zeit etwas ver­nach­läs­sigt wur­de. Ein­her mit Ein­sam­keit gehen dann häu­fig kör­per­li­che Schmer­zen oder die Beein­träch­ti­gung der psy­chi­schen Gesund­heit. In der Sozia­len Arbeit steht die soziale Dimen­sion von Krank­heit im Zen­trum. Was sind Anknüp­fungs­punkte für die Soziale Arbeit, wo kann sie sich ein­brin­gen, um Ein­sam­keit entgegenzuwirken?
Die Soziale Arbeit beschäf­tigt sich tat­säch­lich vor allem mit der sozia­len Dimen­sion der Ein­sam­keit. Ver­schie­denste Orga­ni­sa­tio­nen des Sozi­al­we­sens leis­ten hierzu einen Bei­trag. Diese kön­nen lokal sehr unter­schied­lich aus­ge­stal­tet sein. Zen­tral sind hier die Gemein­we­sen- und die Frei­wil­li­gen­ar­beit, Nach­bar­schafts­hilfe sowie sozia­le, kul­tu­relle und spi­ri­tu­elle Ange­bote und Akti­vi­tä­ten. So kön­nen etwa Quar­tier­treffs, Mit­tags­ti­sche oder offe­nen Kaf­fee-Run­den in ein­zel­nen Quar­tie­ren oder Dör­fern Men­schen zusam­men­brin­gen, die sonst ein­sam wären. Mehr und mehr Gemein­den steu­ern und gestal­ten ihre Alters­po­li­tik durch klare Leit­bil­der und inno­va­tive Pro­jek­te. In der Gemeinde Oster­mun­di­gen wurde zum Bei­spiel unlängst ein Begeg­nungs­weg, also ein «Bänk­li-­Weg», eröff­net, der Gele­gen­heit bie­ten soll, «ein­same Men­schen» zusam­men­zu­brin­gen und zu ver­net­zen. Ein wei­te­res Bei­spiel sind auch regio­nale Selbst­hil­fe­zen­tren, die ein­same Men­schen in Selbst­hil­fe­grup­pen ver­net­zen. Vie­ler­orts und gerade auch in länd­li­chen Gebie­ten leis­ten die Kir­che, Ver­eine und Ver­bände Prä­ven­ti­ons­ar­beit gegen die Einsamkeit.

Wäh­rend der Coro­na-Pan­de­mie muss­ten ins­be­son­dere Vul­ne­ra­ble, bei­spiels­weise ältere Men­schen oder sol­che mit bestimm­ten Vor­er­kran­kun­gen, vor Anste­ckun­gen mit Covi­d-19 geschützt wer­den, oft mit der Kon­se­quenz, dass sie zu Hause oder in sta­tio­nären Ein­rich­tun­gen iso­liert wur­den ohne oder mit sehr wenig Kon­takt mit der Aus­sen­welt. Auch für junge Men­schen mit psy­chi­schen Beein­träch­ti­gun­gen hatte dies zum Teil schwer­wie­gende Kon­se­quen­zen. Wie geht die Soziale Arbeit mit die­sem Ziel­kon­flikt um, im Wis­sen dar­um, dass Ein­sam­keit unter Umstän­den zu einer Ver­stär­kung der Sym­ptome führt?
Das ist rich­tig: In die­ser Zeit der Coro­na-Pan­de­mie war die Soziale Arbeit welt­weit in einer höchst schwie­ri­gen Situa­tion. Sie musste auf der loka­len Ebene oft nach inno­va­ti­ven und prag­ma­ti­schen Lösun­gen suchen, um gerade ältere und vul­ne­ra­ble Men­schen zu schüt­zen und gleich­zei­tig ver­su­chen, sie - so gut es eben ging - vor der Ein­sam­keit und wei­te­ren sozia­len und gesund­heit­li­chen Fol­gen zu bewah­ren. Stich­worte sind hier etwa das Ver­le­gen von gemein­sa­men Akti­vi­tä­ten und Orten des Aus­tau­sches nach draus­sen (wie beim «Bänk­li-­Weg») oder auch das Anbie­ten von Onli­ne-Tref­fen. Wäh­rend der Coro­na-Pan­de­mie wur­den mehr Selbst­hil­fe­grup­pen zum Thema Ein­sam­keit gegrün­det, und viele davon haben online oder in einem «hy­bri­den For­mat» statt­ge­fun­den. Am Film mei­ner Schwes­ter «Ein­sam­keit hat viele Gesich­ter» gefällt mir sehr gut, dass sie vor allem auf die Hand­lungs­stra­te­gien fokus­siert, die ein­sa­men Men­schen ent­wi­ckeln, um mit ihrer Ein­sam­keit umzu­ge­hen. Dies ist ein wich­ti­ges The­ma, gerade in die­ser schwie­ri­gen Zeit, in der wir noch immer stecken.

Wie bereits erwähnt, fokus­siert Soziale Arbeit vor allem auf die soziale Dimen­sion von Krank­heit. In der Pra­xis wird diese Dimen­sion jedoch oft nicht gese­hen oder erkannt, und bei kör­per­li­chen Beschwer­den wird nicht zuerst an eine soziale Ursa­che, wie eben zum Bei­spiel Ein­sam­keit, gedacht. Gleich­zei­tig betreuen und beglei­ten die Soziale Arbeit und das Gesund­heits­we­sen auf­grund mul­ti­per­spek­ti­vi­scher Pro­blem­la­gen sehr oft die­sel­ben Men­schen. Wo sehen Sie Mög­lich­kei­ten einer Zusam­men­ar­beit mit Fach­leu­ten aus dem Gesund­heits­we­sen?
Für die Zukunft ist es sicher wich­tig, dass der Dia­log zwi­schen der Sozia­len Arbeit und dem Gesund­heits­we­sen noch inten­si­viert wird. Wich­tige Schnitt­stel­len leis­ten hier aktu­ell bei­spiels­wiese Sozi­al­ar­bei­tende in Spi­tä­lern, die auf die soziale Dimen­sion einer Krank­heit hin­wei­sen kön­nen. Ich gehe jedoch davon aus, dass Sozi­al­ar­bei­tende in der Pra­xis lei­der oft zu wenig Kapa­zi­tä­ten für diese wich­tige Arbeit haben. Dar­über hin­aus bräuchte es noch viel mehr Aus­tausch und auch gegen­sei­ti­ges Wis­sen und Ver­ständ­nis die­ser bei­den sehr unter­schied­li­chen Berei­che der Medi­zin und der Sozia­len Arbeit. Hier wür­den am bes­ten bereits auch in der Aus- und Wei­ter­bil­dung mehr Aus­tauschmöglichkeiten geschaffen.

Ein­sam­keit hat viele Gesich­ter. Gab es Momente in Ihrem Leben, wo sie sel­ber ein­sam waren oder sich ein­sam fühlten?
Bis­her gab es in mei­nem stark aus­ge­füll­ten Leben – durch Beruf, Fami­lie, Freun­de, Hob­bies, Rei­sen etc. – tat­säch­lich nur wenige ein­same Momen­te. Da bin ich sicher pri­vi­le­giert. Die Pha­se, in der ich mich gerade befin­de, wurde in der Lite­ra­tur auch schon die «Rush hour» des Lebens bezeich­net. Ich den­ke, das trifft es gut, und ich sehe mich aktu­ell sicher eher vom Gegen­teil der Ein­sam­keit gefähr­det: Stress oder Bur­nout. Um so mehr finde ich es wich­tig, sich auch mit Ein­sam­keit aus­ein­an­der zu set­zen, weil diese in einer zukünf­ti­gen Leben­s­phase durch­aus auch mich tref­fen könnte.


Romana Lan­fran­co­ni, bei der Rea­li­sa­tion des Films «Ein­sam­keit hat viele Gesich­ter» haben Sie sie­ben Men­schen ken­nen­ge­lernt, die alle unter­schied­li­che Erfah­run­gen mit Ein­sam­keit gemacht haben. Was hat Sie dabei beson­ders berührt?
Beson­ders berührt hat mich der Mut der Prot­ago­nist*in­nen. Sie haben in unter­schied­li­chen Situa­tio­nen ihre per­sön­li­chen Erfah­run­gen mit Ein­sam­keit gemacht und Stra­te­gien ent­wi­ckelt, wie sie mit den leid­vol­len ein­sa­men Momen­ten in ihrem Leben umge­hen. Sie alle zeich­nen aber auch andere Sei­ten in ihrem Leben aus. Zu akzep­tie­ren, dass diese Sei­ten für den Film mehr oder weni­ger aus­ge­klam­mert wer­den und der Fokus auf den schwie­ri­gen Situa­tio­nen liegt, erfor­derte gros­sen Mut.

War es für die Frauen und Män­ner schwie­rig, sich Ihnen gegen­über zu öff­nen? Über Gefühle der Ein­sam­keit zu spre­chen, kann ja sehr schmerz­haft oder tabu­be­haf­tet sein.
Ich bin auf nie­man­den zuge­gan­gen und habe gesagt: «Sie sind ja ein­sam, daher möchte ich ein Por­trät über Sie machen.» Wir haben uns in Vor­ge­sprä­chen über das Thema unter­hal­ten und uns zusam­men an die Aspekte der Ein­sam­keit her­an­ge­tas­tet, die in dem kur­zen Film Platz haben kön­nen. Teil­weise waren die Gesprä­che aber schon auch emo­tio­nal. Ich bin sehr dank­bar für diese Gefüh­le, denn ich bin über­zeugt, dass diese Ehr­lich­keit den Zuschau­er*in­nen Mut machen kann, selbst über die eigene Ein­sam­keit nach­zu­den­ken und zu sprechen.

Ihre Schwes­ter Lucia Lan­fran­coni ist Sozi­al­for­sche­rin und Pro­fes­so­rin, sie forscht unter ande­rem zu sozia­ler Ungleich­heit und pre­kä­ren Lebens­la­gen. Inwie­weit hat sie Sie dazu inspi­riert, die­sen Film zu drehen?
Lucia und ich tau­schen uns oft über soziale The­men aus. Im Gespräch mer­ken wir dann, dass wir uns mit sehr ähn­li­chen Fra­ge­stel­lun­gen beschäf­ti­gen, auch wenn wir in ganz ande­ren Berufs­fel­dern zu Hause sind. So haben wir vor ein paar Jah­ren das Pro­jekt «Gleich­stel­len» (ww­w.­gleich­stel­len.ch) zusam­men umge­setzt. Das Medium Film eig­net sich gut, um auf soziale The­men auf­merk­sam zu machen. Gleich­zei­tig ist es für mich sehr span­nend und wich­tig zu sehen, wie sie als Wis­sen­schaft­le­rin an die The­men ran geht. Für mich als Doku­men­tar­fil­me­rin ist der Aus­tausch mit Fach­per­so­nen all­ge­mein sehr wich­tig. Ich habe bei dem Pro­jekt «Ein­sam­keit hat viele Gesich­ter» mit einer Fach­gruppe zusam­mengearbeitet. Die­ser Aus­tausch war sehr wert­voll, und die Fach­per­so­nen hel­fen uns jetzt auch, den Film und die zur Ver­fü­gung ste­hen­den Mate­ria­lien zu verbreiten.

Wel­che Bot­schaft rich­ten Sie mit dem Film an die Gesell­schaft, an die Poli­tik, an uns alle?
Wir alle soll­ten ver­mehrt über unsere Gefüh­le, Ängste und Zwei­fel reden. Der Aus­tausch ist wich­tig und hilft, mit den eige­nen Gefüh­len umzu­ge­hen. Mir ist es auch sehr wich­tig, die Soli­da­ri­tät in der Gesell­schaft zu för­dern. Manch­mal hilft ein kur­zes «Hal­lo» oder auch nur ein Lächeln, um den Tag für jeman­den zu erhei­tern. Ich hof­fe, dass jede*r bei sich anfan­gen kann und jeden Tag ein Lächeln auf die Strasse trägt. Durch die Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Thema bin ich auf viele tolle Pro­jekte gestos­sen, die bei­spiels­weise die Nach­bar­schafts­hilfe und das Zusam­men­le­ben all­ge­mein för­dern. Diese gilt es zu unter­stüt­zen und zu stär­ken. Mit die­sen Orga­ni­sa­tio­nen arbei­ten wir nun auch zusam­men und orga­ni­sie­ren Gesprächs­run­den und Podi­ums­dis­kus­sio­nen. Dabei erle­ben wir, dass das gemein­same Schauen des Films inten­sive und intime Gesprä­che ermöglicht.

Ein­sam­keit hat viele Gesich­ter. Gab es Momente in Ihrem Leben, wo sie sel­ber ein­sam waren oder sich ein­sam fühlten?
Ich den­ke, diese Momente ken­nen wir alle. Bei mir waren es kurze Pha­sen im Leben oder sogar nur Momen­te. Ich habe zum Glück sehr vie­les in mei­nem Leben, das mich von Ein­sam­keit ablenkt, denn ich finde es grau­en­haft, mit die­sem Gefühl umzu­ge­hen. Gleich­zei­tig bewun­dere ich meine Prot­ago­nis­ten*in­nen dafür, dass sie schwie­rige Momente aus­hal­ten und gelernt haben mit Ein­sam­keit umzu­ge­hen. Ich durfte viel von ihnen ler­nen und bin über­zeugt, dass es für uns alle wich­tig ist, ab und zu das Allein­sein zu üben.


Lucia Lanfranconi

Lucia Lanfranconi

Prof. Dr. Lucia M. Lan­fran­coni ist Dozen­tin, Pro­jekt­lei­te­rin und Lei­te­rin des Kom­pe­tenz­zen­trums Orga­ni­sa­tio­nen des Sozi­al­we­sens und gesell­schaft­li­che Teil­habe an der Hoch­schule Luzern - Soziale Arbeit. Sie forscht schwer­punkt­mäs­sig zu den The­men soziale Ungleich­heit, Sozi­al­po­li­tik, Geschlech­te­run­gleich­hei­ten, Selbst­hil­fe­grup­pen sowie Armut und pre­käre Lebens­la­gen. Für wei­tere Informationen.


Romana Lanfranconi

Romana Lanfranconi

Romana Lan­fran­coni ist Mit­in­ha­be­rin der Vol­ta­film GmbH in Luzern. Sie arbei­tet als Regis­seu­rin und Pro­du­zen­tin. Seit 2017 ist sie Co-­Ge­schäfts­lei­te­rin und Pro­jekt­lei­te­rin des Ver­eins «Fa­mi­li­en- und Frau­en­ge­sund­heit». Für wei­tere Infor­ma­tio­nen: Voltafilm und FFG-Video.


Einsamkeit hat viele Gesichter

Romana Lanfranconi

Soziale Inte­gra­tion ist eine für das Wohl­be­fin­den, die Gesund­heit und die Lebens­er­war­tung zen­trale Res­sour­ce. Das Risi­ko, früh­zei­tig zu ster­ben, ist bei sozial iso­lier­ten Per­so­nen zwi­schen zwei- und fünf­mal so hoch wie bei gut inte­grier­ten Per­so­nen (Bach­mann, 2014). Der Film «Ein­sam­keit hat viele Gesich­ter» steht im Zen­trum des Sen­si­bi­li­sie­rungs­pro­jekts im Bereich Ein­sam­keit im Alter. Por­trä­tiert wer­den sie­ben Men­schen, die einen Ein­blick in ihr Leben geben und erzäh­len, wie sich Ein­sam­keit für sie anfühlt und wie sie damit umge­hen. Das Pro­jekt wurde vom Ver­ein Fami­li­en- und Frau­en­ge­sund­heit initi­iert und von ver­schie­de­nen Orga­ni­sa­tio­nen des Gesund­heits- und Sozi­al­we­sens sowie Kan­to­nen unterstützt.

Pla­nen Sie Ihre eigene Veranstaltung: Gemein­sam über Ein­sam­keit zu reden, ist wich­tig, kann die­ser vor­beu­gen und Betrof­fe­nen hel­fen, eigene Wege aus der Ein­sam­keit zu fin­den. Der Film und die Broschüren ste­hen allen Inter­es­sier­ten und Fach­per­so­nen im Gesund­heits­we­sen und der Sozia­len Arbeit kos­ten­los zur Verfügung.

Quel­le: Bach­mann, Nico­le. (2014). Soziale Res­sour­cen als Gesund­heits­schutz (Ob­san Bulle­tin 1/2014). Neuchâtel: Schwei­ze­ri­sches Gesundheitsobservatorium.

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