Einsam­keit macht krank: Wer sozial isoliert ist, hat ein erhöh­tes Risi­ko, früh­zei­tig zu ster­ben. Weshalb eigene Hand­lungs­stra­te­gien im Umgang mit Einsam­keit wich­tig sind, ein enger Austausch zwischen Fach­leu­ten des Gesund­heits­we­sens und der Sozia­len Arbeit sinn­voll wäre und was wir alle gegen Einsam­keit in unse­rem eige­nen Umfeld tun können, darüber äussern sich die beiden Schwes­tern Lucia Lanfran­co­ni, Sozi­al­for­sche­rin und Profes­so­rin an der Hoch­schule Luzern, und Romana Lanfran­co­ni, Produ­zen­tin und Regis­seu­rin des Films «Einsam­keit hat viele Gesich­ter», im Inter­view.

Text: Eva Zwahlen
Fotos: zvg

Lucia Lanfran­co­ni, im Alter nimmt Einsam­keit oft zu, sei es, weil man allein­ste­hend ist oder die Pflege von Freund­schaf­ten im Laufe der Zeit etwas vernach­läs­sigt wurde. Einher mit Einsam­keit gehen dann häufig körper­li­che Schmer­zen oder die Beein­träch­ti­gung der psychi­schen Gesund­heit. In der Sozia­len Arbeit steht die soziale Dimen­sion von Krank­heit im Zentrum. Was sind Anknüp­fungs­punkte für die Soziale Arbeit, wo kann sie sich einbrin­gen, um Einsam­keit entgegenzuwirken?
Die Soziale Arbeit beschäf­tigt sich tatsäch­lich vor allem mit der sozia­len Dimen­sion der Einsam­keit. Verschie­denste Orga­ni­sa­tio­nen des Sozi­al­we­sens leis­ten hierzu einen Beitrag. Diese können lokal sehr unter­schied­lich ausge­stal­tet sein. Zentral sind hier die Gemein­we­sen- und die Frei­wil­li­gen­ar­beit, Nach­bar­schafts­hilfe sowie sozia­le, kultu­relle und spiri­tu­elle Ange­bote und Akti­vi­tä­ten. So können etwa Quar­tier­treffs, Mittags­ti­sche oder offe­nen Kaffee-Run­den in einzel­nen Quar­tie­ren oder Dörfern Menschen zusam­men­brin­gen, die sonst einsam wären. Mehr und mehr Gemein­den steu­ern und gestal­ten ihre Alters­po­li­tik durch klare Leit­bil­der und inno­va­tive Projek­te. In der Gemeinde Oster­mun­di­gen wurde zum Beispiel unlängst ein Begeg­nungs­weg, also ein «Bänk­li-­We­g», eröff­net, der Gele­gen­heit bieten soll, «ein­same Menschen» zusam­men­zu­brin­gen und zu vernet­zen. Ein weite­res Beispiel sind auch regio­nale Selbst­hil­fe­zen­tren, die einsame Menschen in Selbst­hil­fe­grup­pen vernet­zen. Vieler­orts und gerade auch in länd­li­chen Gebie­ten leis­ten die Kirche, Vereine und Verbände Präven­ti­ons­ar­beit gegen die Einsamkeit.

Während der Coro­na-Pan­de­mie muss­ten insbe­son­dere Vulnera­ble, beispiels­weise ältere Menschen oder solche mit bestimm­ten Vorer­kran­kun­gen, vor Anste­ckun­gen mit Covi­d-19 geschützt werden, oft mit der Konse­quenz, dass sie zu Hause oder in statio­nä­ren Einrich­tun­gen isoliert wurden ohne oder mit sehr wenig Kontakt mit der Aussen­welt. Auch für junge Menschen mit psychi­schen Beein­träch­ti­gun­gen hatte dies zum Teil schwer­wie­gende Konse­quen­zen. Wie geht die Soziale Arbeit mit diesem Ziel­kon­flikt um, im Wissen darum, dass Einsam­keit unter Umstän­den zu einer Verstär­kung der Symptome führt?
Das ist rich­tig: In dieser Zeit der Coro­na-Pan­de­mie war die Soziale Arbeit welt­weit in einer höchst schwie­ri­gen Situa­ti­on. Sie musste auf der loka­len Ebene oft nach inno­va­ti­ven und prag­ma­ti­schen Lösun­gen suchen, um gerade ältere und vulnera­ble Menschen zu schüt­zen und gleich­zei­tig versu­chen, sie - so gut es eben ging - vor der Einsam­keit und weite­ren sozia­len und gesund­heit­li­chen Folgen zu bewah­ren. Stich­worte sind hier etwa das Verle­gen von gemein­sa­men Akti­vi­tä­ten und Orten des Austau­sches nach draus­sen (wie beim «Bänk­li-­We­g») oder auch das Anbie­ten von Online-­Tref­fen. Während der Coro­na-Pan­de­mie wurden mehr Selbst­hil­fe­grup­pen zum Thema Einsam­keit gegrün­det, und viele davon haben online oder in einem «hybri­den Format» statt­ge­fun­den. Am Film meiner Schwes­ter «Einsam­keit hat viele Gesich­ter» gefällt mir sehr gut, dass sie vor allem auf die Hand­lungs­stra­te­gien fokus­siert, die einsa­men Menschen entwi­ckeln, um mit ihrer Einsam­keit umzu­ge­hen. Dies ist ein wich­ti­ges Thema, gerade in dieser schwie­ri­gen Zeit, in der wir noch immer stecken.

Wie bereits erwähnt, fokus­siert Soziale Arbeit vor allem auf die soziale Dimen­sion von Krank­heit. In der Praxis wird diese Dimen­sion jedoch oft nicht gese­hen oder erkannt, und bei körper­li­chen Beschwer­den wird nicht zuerst an eine soziale Ursa­che, wie eben zum Beispiel Einsam­keit, gedacht. Gleich­zei­tig betreuen und beglei­ten die Soziale Arbeit und das Gesund­heits­we­sen aufgrund multi­per­spek­ti­vi­scher Problem­la­gen sehr oft diesel­ben Menschen. Wo sehen Sie Möglich­kei­ten einer Zusam­men­ar­beit mit Fach­leu­ten aus dem Gesund­heits­we­sen?
Für die Zukunft ist es sicher wich­tig, dass der Dialog zwischen der Sozia­len Arbeit und dem Gesund­heits­we­sen noch inten­si­viert wird. Wich­tige Schnitt­stel­len leis­ten hier aktu­ell beispielswiese Sozi­al­ar­bei­tende in Spitä­lern, die auf die soziale Dimen­sion einer Krank­heit hinwei­sen können. Ich gehe jedoch davon aus, dass Sozi­al­ar­bei­tende in der Praxis leider oft zu wenig Kapa­zi­tä­ten für diese wich­tige Arbeit haben. Darüber hinaus bräuchte es noch viel mehr Austausch und auch gegen­sei­ti­ges Wissen und Verständ­nis dieser beiden sehr unter­schied­li­chen Berei­che der Medi­zin und der Sozia­len Arbeit. Hier würden am besten bereits auch in der Aus- und Weiter­bil­dung mehr Austausch­mög­lich­kei­ten geschaffen.

Einsam­keit hat viele Gesich­ter. Gab es Momente in Ihrem Leben, wo sie selber einsam waren oder sich einsam fühlten?
Bisher gab es in meinem stark ausge­füll­ten Leben – durch Beruf, Fami­lie, Freun­de, Hobbies, Reisen etc. – tatsäch­lich nur wenige einsame Momen­te. Da bin ich sicher privi­le­giert. Die Phase, in der ich mich gerade befin­de, wurde in der Lite­ra­tur auch schon die «Rush hour» des Lebens bezeich­net. Ich denke, das trifft es gut, und ich sehe mich aktu­ell sicher eher vom Gegen­teil der Einsam­keit gefähr­det: Stress oder Burnout. Um so mehr finde ich es wich­tig, sich auch mit Einsam­keit ausein­an­der zu setzen, weil diese in einer zukünf­ti­gen Lebens­phase durch­aus auch mich tref­fen könn­te.



Romana Lanfran­co­ni, bei der Reali­sa­tion des Films «Ein­sam­keit hat viele Gesich­ter» haben Sie sieben Menschen kennen­ge­lernt, die alle unter­schied­li­che Erfah­run­gen mit Einsam­keit gemacht haben. Was hat Sie dabei beson­ders berührt?
Beson­ders berührt hat mich der Mut der Prot­ago­nis­t*in­nen. Sie haben in unter­schied­li­chen Situa­tio­nen ihre persön­li­chen Erfah­run­gen mit Einsam­keit gemacht und Stra­te­gien entwi­ckelt, wie sie mit den leid­vol­len einsa­men Momen­ten in ihrem Leben umge­hen. Sie alle zeich­nen aber auch andere Seiten in ihrem Leben aus. Zu akzep­tie­ren, dass diese Seiten für den Film mehr oder weni­ger ausge­klam­mert werden und der Fokus auf den schwie­ri­gen Situa­tio­nen liegt, erfor­derte gros­sen Mut.

War es für die Frauen und Männer schwie­rig, sich Ihnen gegen­über zu öffnen? Über Gefühle der Einsam­keit zu spre­chen, kann ja sehr schmerz­haft oder tabu­be­haf­tet sein.
Ich bin auf nieman­den zuge­gan­gen und habe gesagt: «Sie sind ja einsam, daher möchte ich ein Porträt über Sie machen.» Wir haben uns in Vorge­sprä­chen über das Thema unter­hal­ten und uns zusam­men an die Aspekte der Einsam­keit heran­ge­tas­tet, die in dem kurzen Film Platz haben können. Teil­weise waren die Gesprä­che aber schon auch emotio­nal. Ich bin sehr dank­bar für diese Gefüh­le, denn ich bin über­zeugt, dass diese Ehrlich­keit den Zuschau­er*in­nen Mut machen kann, selbst über die eigene Einsam­keit nach­zu­den­ken und zu sprechen.

Ihre Schwes­ter Lucia Lanfran­coni ist Sozi­al­for­sche­rin und Profes­so­rin, sie forscht unter ande­rem zu sozia­ler Ungleich­heit und prekä­ren Lebens­la­gen. Inwie­weit hat sie Sie dazu inspi­riert, diesen Film zu drehen?
Lucia und ich tauschen uns oft über soziale Themen aus. Im Gespräch merken wir dann, dass wir uns mit sehr ähnli­chen Frage­stel­lun­gen beschäf­ti­gen, auch wenn wir in ganz ande­ren Berufs­fel­dern zu Hause sind. So haben wir vor ein paar Jahren das Projekt «Gleich­stel­len» (www.­gleich­stel­len.ch) zusam­men umge­setzt. Das Medium Film eignet sich gut, um auf soziale Themen aufmerk­sam zu machen. Gleich­zei­tig ist es für mich sehr span­nend und wich­tig zu sehen, wie sie als Wissen­schaft­le­rin an die Themen ran geht. Für mich als Doku­men­tar­fil­me­rin ist der Austausch mit Fach­per­so­nen allge­mein sehr wich­tig. Ich habe bei dem Projekt «Ein­sam­keit hat viele Gesich­ter» mit einer Fach­gruppe zusam­mengearbeitet. Dieser Austausch war sehr wert­voll, und die Fach­per­so­nen helfen uns jetzt auch, den Film und die zur Verfü­gung stehen­den Mate­ria­lien zu verbreiten.

Welche Botschaft rich­ten Sie mit dem Film an die Gesell­schaft, an die Poli­tik, an uns alle?
Wir alle soll­ten vermehrt über unsere Gefüh­le, Ängste und Zwei­fel reden. Der Austausch ist wich­tig und hilft, mit den eige­nen Gefüh­len umzu­ge­hen. Mir ist es auch sehr wich­tig, die Soli­da­ri­tät in der Gesell­schaft zu fördern. Manch­mal hilft ein kurzes «Hal­lo» oder auch nur ein Lächeln, um den Tag für jeman­den zu erhei­tern. Ich hoffe, dass jede*r bei sich anfan­gen kann und jeden Tag ein Lächeln auf die Strasse trägt. Durch die Ausein­an­der­set­zung mit dem Thema bin ich auf viele tolle Projekte gestos­sen, die beispiels­weise die Nach­bar­schafts­hilfe und das Zusam­men­le­ben allge­mein fördern. Diese gilt es zu unter­stüt­zen und zu stär­ken. Mit diesen Orga­ni­sa­tio­nen arbei­ten wir nun auch zusam­men und orga­ni­sie­ren Gesprächs­run­den und Podi­ums­dis­kus­sio­nen. Dabei erle­ben wir, dass das gemein­same Schauen des Films inten­sive und intime Gesprä­che ermöglicht.

Einsam­keit hat viele Gesich­ter. Gab es Momente in Ihrem Leben, wo sie selber einsam waren oder sich einsam fühlten?
Ich denke, diese Momente kennen wir alle. Bei mir waren es kurze Phasen im Leben oder sogar nur Momen­te. Ich habe zum Glück sehr vieles in meinem Leben, das mich von Einsam­keit ablenkt, denn ich finde es grau­en­haft, mit diesem Gefühl umzu­ge­hen. Gleich­zei­tig bewun­dere ich meine Prot­ago­nis­ten*in­nen dafür, dass sie schwie­rige Momente aushal­ten und gelernt haben mit Einsam­keit umzu­ge­hen. Ich durfte viel von ihnen lernen und bin über­zeugt, dass es für uns alle wich­tig ist, ab und zu das Allein­sein zu üben.


Lucia Lanfranconi

Lucia Lanfranconi

Prof. Dr. Lucia M. Lanfran­coni ist Dozen­tin, Projekt­lei­te­rin und Leite­rin des Kompe­tenz­zen­trums Orga­ni­sa­tio­nen des Sozi­al­we­sens und gesell­schaft­li­che Teil­habe an der Hoch­schule Luzern - Soziale Arbeit. Sie forscht schwer­punkt­mäs­sig zu den Themen soziale Ungleich­heit, Sozi­al­po­li­tik, Geschlech­terun­gleich­hei­ten, Selbst­hil­fe­grup­pen sowie Armut und prekäre Lebens­la­gen. Für weitere Informationen.


Romana Lanfranconi

Romana Lanfranconi

Romana Lanfran­coni ist Mitin­ha­be­rin der Volta­film GmbH in Luzern. Sie arbei­tet als Regis­seu­rin und Produ­zen­tin. Seit 2017 ist sie Co-Ge­schäfts­lei­te­rin und Projekt­lei­te­rin des Vereins «Fami­li­en- und Frau­en­gesund­heit». Für weitere Infor­ma­tio­nen: Voltafilm und FFG-Video.


Einsamkeit hat viele Gesichter

Romana Lanfranconi

Soziale Inte­gra­tion ist eine für das Wohl­be­fin­den, die Gesund­heit und die Lebens­er­war­tung zentrale Ressour­ce. Das Risi­ko, früh­zei­tig zu ster­ben, ist bei sozial isolier­ten Perso­nen zwischen zwei- und fünf­mal so hoch wie bei gut inte­grier­ten Perso­nen (Bach­mann, 2014). Der Film «Ein­sam­keit hat viele Gesich­ter» steht im Zentrum des Sensi­bi­li­sie­rungs­pro­jekts im Bereich Einsam­keit im Alter. Porträ­tiert werden sieben Menschen, die einen Einblick in ihr Leben geben und erzäh­len, wie sich Einsam­keit für sie anfühlt und wie sie damit umge­hen. Das Projekt wurde vom Verein Fami­li­en- und Frau­en­gesund­heit initi­iert und von verschie­de­nen Orga­ni­sa­tio­nen des Gesund­heits- und Sozi­al­we­sens sowie Kanto­nen unterstützt.

Planen Sie Ihre eigene Veranstaltung: Gemein­sam über Einsam­keit zu reden, ist wich­tig, kann dieser vorbeu­gen und Betrof­fe­nen helfen, eigene Wege aus der Einsam­keit zu finden. Der Film und die Broschüren stehen allen Inter­es­sier­ten und Fach­per­so­nen im Gesund­heits­we­sen und der Sozia­len Arbeit kosten­los zur Verfügung.

Quel­le: Bach­mann, Nicole. (2014). Soziale Ressour­cen als Gesund­heits­schutz (Obsan Bulle­tin 1/2014). Neuch­â­tel: Schwei­ze­ri­sches Gesundheitsobservatorium.

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