Psychische Krankheit als soziales Problem -
Alternative Problemkonstruktion aus Sicht der Sozialen Arbeit

posted on 2 Aug 2021

Die seit über einem Jahr andau­ernde Coro­na-Pan­de­mie wird ver­schie­dent­lich als «Brenn­glas» sozia­ler Pro­bleme bezeich­net (Bun­des­amt für Gesund­heit, 2020, o.S.; Stocker, Jäg­gi, Liech­ti, Schläp­fer, Németh & Kün­zi, 2020, S. 49). Soziale Pro­bleme erlan­gen einer­seits in der Öffent­lich­keit ver­mehrte Auf­merk­sam­keit, ande­rer­seits führte die Pan­de­mie zur Ver­stär­kung vor­han­de­ner Ten­den­zen. Dies zeigte sich ein­drück­lich an der Armutspro­ble­ma­tik. So waren Bil­der von lan­gen Warteschlan­gen, in wel­chen Men­schen stun­den­lang für Essen ange­stan­den sind, in den Medien prä­sent (Schwei­zer Radio und Fern­se­hen, 2021). Auch psy­chi­sche Erkran­kun­gen erlang­ten im ver­gan­ge­nen Jahr ver­mehrte Auf­merk­sam­keit. Die­ser Arti­kel befasst sich damit, wie psy­chi­sche Krank­heit als sozia­les Pro­blem aus sozio­lo­gi­scher Per­spek­tive ver­stan­den wird. Es wird den Fra­gen nach­ge­gan­gen, wie sich Pro­blem­wahr­neh­mun­gen über psy­chi­sche Krank­heit his­to­risch ver­än­dert haben, wel­che Dis­kurse heute prä­gend sind und wel­che Fol­gen dies für die Pro­fes­sion der Sozia­len Arbeit hat. Zudem wird auf­ge­zeigt, wel­ches Pro­blem­ver­ständ­nis psy­chi­scher Krank­heit an das Selbst­ver­ständ­nis der Sozia­len Arbeit anschluss­fä­hig ist und wie die «Pan­de­mie als Brenn­glas» genutzt wer­den kann, um Per­spek­ti­ven der Sozia­len Arbeit ver­mehrt in Dis­kurse einzubringen.

Text: Eva Zwah­len & Mir­jam Mar­tin, Mas­ter­stu­den­tin­nen Soziale Arbeit BFH

Psy­chi­sche Erkran­kun­gen ste­hen seit Beginn der Coro­na-Pan­de­mie ver­stärkt in der Auf­merk­sam­keit von Poli­tik und Öffent­lich­keit. Dies lässt sich daran auf­zei­gen, dass diverse neue Ange­bote zur Prä­ven­tion und Behand­lung geschaf­fen, Stu­dien in Auf­trag gege­ben und Ver­an­stal­tun­gen durch­ge­führt wur­den. Auf einer neu geschaf­fe­nen Web­seite des Bun­des­am­tes für Gesund­heit (BAG), der Stif­tung Gesund­heitsförderung Schweiz (GFCH) und wei­te­ren Akteur*in­nen aus dem Gesund­heitsbereich wur­den Men­schen mit Tipps zur Pflege der psy­chi­schen Gesund­heit ver­sorgt. Meh­rere Stu­dien zur The­ma­tik wur­den und wer­den durch­ge­führt, so bei­spiels­weise die Swiss Corona Stress Study der Uni­ver­si­tät Basel (2021) oder die im Auf­trag des BAG durch­ge­führte Stu­die über den Ein­fluss der Coro­na-Pan­de­mie auf die psy­chi­sche Gesund­heit der Schwei­zer Bevöl­ke­rung (Sto­cker et al., 2020). Diese und wei­tere Stu­dien kon­sta­tier­ten vor allem in der zwei­ten Coro­na-Welle (ge­gen Ende des Jah­res 2020) eine Zunahme psy­chi­scher Belas­tun­gen und Erkran­kun­gen (Kess­ler & Gug­gen­bühl, 2021).

Es stellt sich aus wis­sen­schaft­li­cher Sicht die Fra­ge, was eigent­lich damit gemeint ist, wenn über psy­chi­sche Krank­heit gespro­chen wird. Die Sozio­lo­gie sozia­ler Pro­ble­me, wel­che auch psy­chi­sche Krank­heit als ein sol­ches sozia­les Pro­blem ver­steht, bie­tet hier Erklärungsansätze.

Sozio­lo­gie sozia­ler Probleme
In der US-a­me­ri­ka­ni­schen Sozio­lo­gie wird seit über einem Jahr­hun­dert von «so­cial pro­blems» gespro­chen (Gro­e­ne­meyer, 2012, S. 17). Auch im deut­schen Sprach­raum wur­den sozio­lo­gi­sche Ver­ei­ni­gun­gen gegrün­det, wel­che sich der Unter­su­chung sozia­ler Pro­bleme wid­me­ten, und zahl­rei­che Bücher wur­den zur The­ma­tik ver­fasst. Was unter sozia­len Pro­blemen genau ver­stan­den wird, bleibt den­noch unklar. Es exis­tiert eine Viel­zahl an Defi­ni­tio­nen, unter­schied­lichste Phä­no­mene wie bei­spiels­weise Dro­gen­kon­sum, Frau­en­dis­kri­mi­nie­rung oder Arbeits­lo­sig­keit wer­den dar­un­ter sub­sum­miert. Gro­e­ne­meyer (eb­d., S. 29) nennt drei gemein­same Ele­men­te, wel­che unter­schied­li­che Defi­ni­tio­nen sozia­ler Pro­bleme auf­wei­sen: den Aspekt eines Scha­dens, die Bedeu­tung der öffent­li­chen The­ma­ti­sie­rung und die Not­wen­dig­keit zur Bear­bei­tung oder Lösung.

Nebst der Defi­ni­tion davon, was soziale Pro­bleme sind, geht es der Sozio­lo­gie auch darum auf­zu­zei­gen, wie soziale Pro­bleme ent­ste­hen oder viel­mehr her­ge­stellt wer­den. Hier­bei wer­den zwei Sicht­wei­sen unter­schie­den (Gro­e­ne­meyer, 2012, S. 29). Objek­ti­vis­tisch wird ange­nom­men, dass soziale Pro­bleme an sich exis­tie­ren und auf Stö­run­gen inner­halb der Gesell­schaft hin­wei­sen. Es wird dann nach deren Ursa­chen oder Ver­brei­tungs­me­cha­nis­men gefragt. Aus kon­struk­ti­vis­ti­scher Sicht­weise hin­ge­gen wer­den soziale Pro­bleme als Ergeb­nisse «er­folg­rei­cher Pro­ble­ma­ti­sie­rungs­ak­ti­vi­tä­ten kol­lek­ti­ver Akteure in der Gesell­schaft» (eb­d., S. 24) ver­stan­den. Als Ver­bin­dung die­ser bei­den Ansätze ent­wi­ckelte Schet­sche (1996) ein objek­ti­vis­tisch-­kon­struk­ti­vis­ti­sches Modell. Die Exis­tenz eines «so­zia­len Sach­ver­hal­tes» (eb­d., S. 12) als Ker­n­ele­ment ver­steht er dabei als not­wen­dig, aber nicht hin­rei­chend für die Ent­ste­hung eines sozia­len Pro­blems. Um die­sen sozia­len Sach­ver­halt herum kon­stru­ie­ren unter­schied­li­che Akteur*in­nen ansch­lies­send Pro­blem­mus­ter und ver­wen­den Dis­kur­ss­tra­te­gien, was zu einer bestimm­ten Pro­blem­wahr­neh­mung führt. Erst durch die­sen dis­kur­si­ven Pro­zess ent­steht das soziale Pro­blem oder nimmt die Pro­blemkarriere ihren Lauf. Bei­spiels­weise wurde der Aus­schluss der Frauen vom Stimm- und Wahl­recht als eine Form der Frau­en­dis­kri­mi­nie­rung lange nicht hin­ter­fragt, und es hat einige Zeit gedau­ert, bis sich die­ser soziale Sach­ver­halt als pro­ble­ma­tisch durch­ge­setzt hat. Zur Dar­stel­lung sol­cher Pro­blemkarrieren wer­den in der Fachli­te­ra­tur unter­schied­li­che soge­nannte Kar­rie­re­mo­delle ver­wen­det, wel­che oft meh­rere Stu­fen auf­wei­sen. Ein Bei­spiel dafür ist das in Abbil­dung 1 dar­ge­stellte sechs­stu­fige Modell nach Schet­sche (1996, S. 31).

Phasen-der-Problemkarriere
Abbildung 1. Phasen der Problemkarriere. Schetsche, 1996, S. 31.

Das Stu­fen­mo­dell zeigt auf, dass ein Sach­ver­halt über eine erste The­ma­ti­sie­rung als Pro­blem, über die Eta­blie­rung spe­zi­fi­scher Pro­blem­mus­ter, über öffent­li­che und schliess­lich staat­li­che Aner­ken­nung zu einem sozia­len Pro­blem gemacht wird. Dar­auf fol­gen Mass­nah­men zur Pro­blembekämpfung und mög­li­cher­weise die Lösung des Pro­blems. Jeder die­ser Schritte kann schei­tern, was durch die nach unten gerich­te­ten Pfeile ersicht­lich ist.

Da sol­che Stu­fen­mo­delle eine starke Linea­ri­tät impli­zie­ren, schlägt Best (2008, S. 329) in Abbil­dung 2 eine alter­na­tive Dar­stel­lungs­weise vor.

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Abbildung 2. Die Karriere sozialer Probleme. Best, 2008, S. 329, zit. in Groenemeyer, 2010, S. 21.

Für Gro­e­ne­meyer (2010, S. 20) wei­sen die vie­len Pfeile im Modell auf die Schwie­rig­keit oder Unmög­lich­keit hin, die Kom­ple­xi­tät von rea­len Pro­blem­kar­rie­ren dar­zu­stel­len. Er begreift das Modell als ein heu­ris­ti­sches Instru­ment, wel­ches zu ver­ste­hen hilft, wie Kon­struk­tio­nen sozia­ler Pro­bleme in ver­schie­de­nen Are­nen, Sphä­ren oder Fel­dern statt­fin­den. Diese Fel­der, als recht­e­ckige Ele­mente dar­ge­stellt, mar­kie­ren also keine Pha­sen wie in Schet­sches Modell, son­dern viel­mehr ver­schie­dene gesell­schaft­li­che Kon­tex­te, in wel­chen Kon­struk­tio­nen statt­fin­den. Gro­e­ne­meyer et al. (2012, ab S. 117) spre­chen auch von der Poli­tik sozia­ler Pro­bleme. Denn: «So­ziale Pro­bleme sind die Grund­lage und das Mate­rial für sozi­al­po­li­ti­sche Inter­ven­tio­nen, für Kri­mi­nal- und Gesund­heits­po­li­tik ebenso wie auch für die Soziale Arbeit und viele andere Fel­der des poli­ti­schen Sys­tems» (eb­d., S. 117). Soziale Pro­bleme stel­len dabei stets eine For­de­rung nach Ver­än­der­bar­keit. Wer­den gesell­schaft­li­che Struk­tu­ren als von einer höhe­ren Macht deter­mi­niert ver­stan­den, gibt es keine solchen.

Soziale Pro­bleme sind zusam­men­fas­send als gesell­schaft­lich und somit his­to­risch wie auch kul­tu­rell geprägte Kon­struk­tio­nen zu ver­ste­hen. Gro­e­ne­meyer (2012, S. 34) nennt sie Pro­dukte moder­ner Gesellschaften.

Psy­chi­sche Krank­heit als gött­li­che Stra­fe, Beses­sen­heit oder man­gelnde Vernunft
Im Fol­gen­den wird auf­ge­zeigt, wie das soziale Pro­blem psy­chi­sche Krank­heit über die Zeit unter­schied­lich kon­stru­iert wur­de. Kilian (2012, ab S. 924) gibt einen Über­blick über die­sen Ver­lauf, wel­cher kurz zusam­men­ge­fasst wird. Der Über­blick zeigt auf, dass über die Jahr­hun­derte stark diver­gie­rende Pro­blemwahrnehmungen vor­herr­schend waren, wel­che mit unter­schied­lich durch­set­zungs­star­ken Akteur*in­nen in Ver­bin­dung ste­hen. Das Wis­sen um die his­to­ri­schen Kon­struk­tio­nen eines sozia­len Pro­blems ist dar­über hin­aus hilf­reich für ein Ver­ständ­nis heu­ti­ger Dis­kurse über psy­chi­sche Krank­heit.

In der anti­ken Mythologie wur­den Wahn­sinn oder Ver­wir­run­gen des Geis­tes nicht als Erkran­kung, son­dern als Aus­druck gött­li­cher oder dämo­ni­scher Kräfte als eine Art Gabe ver­stan­den (eb­d., S. 930).

Erst­mals ent­wi­ckel­ten die :Hip­po­kra­ti­ker ab ca. 400 vor Chris­tus_ eine Krank­heits­vor­stel­lung, die als humo­ral­pa­tho­lo­gi­sche bezeich­net wird. Stö­run­gen des Ver­hält­nis­ses der vier Kör­per­säfte Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle wer­den dabei als krank machend verstanden.

Im Mittelalter erfolgte ein kla­rer Bruch zur Vor­stel­lung von Krank­heit, wel­che kör­per­lich bedingt ist, hin zu einer theo­lo­gisch gepräg­ten Deu­tung (eb­d., S. 930). Das wich­tigste Ele­ment war die Annahme einer rea­len Exis­tenz Satans und dazu­ge­hö­ri­gen Dämo­nen. Sym­ptome wur­den als Beses­sen­heit gewer­tet und Betrof­fe­nen muss­ten die bösen Kräfte aus­ge­trie­ben wer­den, bis hin zum Tod.

Spä­tes­tens seit dem 15. Jahrhundert wur­den ergän­zend in Spa­nien und wei­te­ren Tei­len Euro­pas, geprägt durch die ara­bisch-is­la­mi­sche Welt, ratio­nale medi­zi­ni­sche Erklä­run­gen über Geis­tes­krank­hei­ten ent­wi­ckelt (eb­d., S. 931). Diese wur­den durch reli­gi­öse Glau­bens­ver­tre­tende jedoch offen­siv bekämpft und erlang­ten wenig Einfluss.

In der Aufklärung ab dem 17. Jahr­hun­dert wur­den Geis­tes­krank­hei­ten wie auch andere For­men sozia­ler Abwei­chung zuneh­mend als man­gelnde Ver­nunft und mora­li­sche Ver­feh­lung gewer­tet. Die­sen Abwei­chungen wurde mit der Bekämp­fung in Form des Ein­sper­rens in Armen- oder Irren­häu­ser begeg­net, was durch unter­schied­li­che Autor*in­nen als Beginn eines gesell­schaft­li­chen Dis­zi­pli­nie­rungs­pro­zes­ses ver­stan­den wird, wel­cher eine Vor­aus­set­zung für die erfolg­rei­che Eta­blie­rung des kapi­ta­lis­ti­schen Wirt­schafts­sys­tems dar­stellt (eb­d., S. 931).

Im spä­ten 18. Jahrhundert setzte sich ein bio­lo­gi­sches Krank­heits­ver­ständ­nis durch, wel­ches neu­ro­a­na­to­mi­sche Anoma­lien des Gehirns und Erb­lich­keit als Ursa­chen psy­chi­scher Krank­heit betrachtete.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts fand eine Abkehr der neu­ro­a­na­to­mi­schen Bewer­tung statt. Diese liess sich durch For­schun­gen nicht bestä­ti­gen. Im glei­chen Zeit­raum ent­wi­ckelte Sig­mund Freud die Psy­cho­ana­ly­se. Diese geht – wie­derum in Abkehr zu einem bio­lo­gi­schen Ver­ständ­nis – erst­mals von kon­flikt­haf­ten Bezie­hun­gen zwi­schen dem Indi­vi­duum und sei­ner Umwelt als Erklä­rung psy­chi­scher Krank­heit aus. Die Psy­cho­ana­lyse ent­wi­ckelte sich schliess­lich aus­ge­hend von den USA und bis in die 1960er Jahre zur füh­ren­den Lehr­mei­nung (eb­d., S. 933).

Im zwei­ten Weltkrieg ver­stärkte sich in Euro­pa, vor allem in Deutsch­land, die Sicht­weise der Erb­lich­keit und erb­li­chen Dege­ne­ra­tion psy­chi­scher Erkran­kun­gen, was bekann­ter­weise zu unzäh­li­gen Opfern der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Ver­nich­tun­gen führte (eb­d., S. 932).

Mit der Ent­de­ckung der Wir­kung von Psy­cho­phar­maka begann in der zwei­ten Hälfte des 20. Jahr­hun­derts deren Aus­brei­tung (eb­d., S. 933). Psy­chi­sche Erkran­kun­gen wur­den zu Stö­run­gen des Stoff­wech­sels im Gehirn und damit wie­der – als Gegen­satz zur Psy­cho­ana­lyse – an einer bio­lo­gi­schen Kom­po­nente festgemacht.

Im Rah­men der gesell­schaft­li­chen Umbrü­che in den 1960er Jah­ren kam es zu einer Anti­psych­ia­trie­be­we­gung, wel­che sich vehe­ment gegen die gän­gige medi­zi­nisch-na­tur­wis­sen­schaft­li­che Sicht­weise stellte (eb­d., S. 934). Die Exis­tenz psy­chi­scher Krank­hei­ten wurde zum Mythos. Dia­gno­sen wur­den dahin­ge­hend kri­ti­siert, dass sie durch eine Eti­ket­tie­rung von sozia­ler Abwei­chung dem Erhalt kapi­ta­lis­ti­scher Macht­ver­hält­nisse dienten. Dies führte in den 70er Jah­ren zu einer Psych­ia­trie­re­form, in deren Rah­men Kli­nik­plätze abge­baut wur­den.

Die­ser zusam­men­ge­fasste his­to­ri­sche Abriss ist nicht voll­stän­dig und die Ein­tei­lung gewis­ser Vor­stel­lun­gen in Jahr­hun­derte oder his­to­ri­sche Epo­chen ver­mit­telt ein zu stark ver­ein­fach­tes Bild. Pro­blem­ver­ständ­nisse tre­ten in der Zeit viel­mehr über­lap­pend, sich wider­spre­chend oder ergän­zend auf (eb­d., S. 930). So gibt es unter­schied­li­che Erklä­rungs­mus­ter ver­schie­de­ner spe­zi­fi­scher psy­chi­scher Erkran­kun­gen und es wer­den his­to­risch jeweils unter­schied­li­che Phä­no­mene als zu psy­chi­scher Krank­hei­ten zuge­hö­rig ver­stan­den. Dia­gno­sen wer­den kon­stru­iert, blei­ben oder ver­schwin­den wie­der. Dies lässt sich anschau­lich an den ver­än­der­ten Inhal­ten der bei­den gän­gi­gen Dia­gno­se­ma­nu­a­len psy­chi­scher Erkran­kun­gen, dem Inter­na­tio­nal Sta­ti­sti­cal Clas­si­fi­ca­tion of Disea­ses and Rela­ted Health Pro­blems (ICD) 10 (Ka­pi­tel 5) der World Health Orga­ni­sa­tion (WHO) und dem Dia­gno­stic and Sta­ti­sti­cal Manual of Men­tal Dis­or­ders (DSM) V der Ame­ri­can Psy­cho­lo­gi­cal Asso­cia­tion (APA), auf­zei­gen. Diese wur­den nach dem Zwei­ten Welt­krieg begrün­det, wobei bei­spiels­weise Homo­se­xua­li­tät noch in den 1970er Jah­ren als Krank­heit auf­ge­führt wur­de. Die ICD-10 wird heut­zu­tage auch als Grund­lage zur Aner­ken­nung von psy­chi­schen Krank­heitsbildern durch die Inva­li­den­ver­si­che­rung der Schweiz verwendet.

Grund­sätz­lich kann fest­ge­hal­ten wer­den, dass sich die Vor­stel­lun­gen von psy­chi­scher Krank­heit als sozia­les Pro­blem von der gött­li­chen Bestra­fung, zur Beses­sen­heit böser Kräf­te, man­geln­der Ver­nunft, einer Anoma­lie des Gehirns, kon­flikt­haf­ten Bezie­hun­gen, einem Mythos bis zu einer zere­bra­len Stoff­wech­sel­stö­rung wandelten.

Psy­chi­sche Krank­heit aktu­ell – neuere Entwicklungen
Psy­chi­sche Erkran­kun­gen wer­den von der WHO als ein zuneh­men­des Pro­blem moder­ner Gesell­schaf­ten bezeich­net, wobei von einer stei­gen­den Präva­lenz aus­ge­gan­gen wird (Ki­lian, 2012, S. 924). Diese Ein­schät­zung wird in den letz­ten zwan­zig Jah­ren von neue­ren Ent­wick­lun­gen wie dem erhöh­ten Ein­satz von Psy­cho­phar­ma­ka, einer grös­se­ren Behand­lungs­be­reit­schaft oder auch der Inten­si­vie­rung von Prä­ven­tion psy­chi­scher Erkran­kun­gen beglei­tet (eb­d., S. 949). Der Aspekt der Prä­ven­tion zeigt sich auch in den ein­gangs beschrie­be­nen Akti­vi­tä­ten, wie bei­spiels­weise der Web­seite dureschnufe.ch.

Nach Kilian (eb­d., S. 948) wird das Phä­no­men psy­chi­sche Krank­heit heute als neu­ro­pa­tho­lo­gisch und durch die gene­ti­sche Dis­po­si­tion bedingt ver­stan­den. Viel Hoff­nung wird dabei in die gene­ti­sche und neu­ro­bio­lo­gi­sche Erfor­schung psy­chi­scher Krank­heiten gesteckt (Schöny, 2018, S. 21). Die bio­lo­gisch-­me­di­zi­ni­sche Sicht­wei­se, die, wie im vor­de­ren Kapi­tel auf­ge­zeigt wur­de, über eine län­gere Tra­di­tion ver­fügt, scheint dem­nach heute dis­kur­sprä­gend zu sein. Dies gilt auch für deren Akteur*in­nen wie der Psych­ia­trie als medi­zi­ni­sche Dis­zi­plin als Teil der Naturwissenschaften.

Wird psy­chi­sche Krank­heit pri­mär bio­lo­gisch ver­stan­den, erhält sie einen stark objek­ti­vie­ren­den Cha­rak­ter. Dabei gera­ten einer­seits Aspekte des sozia­len Kon­struk­ti­ons­pro­zes­ses und ande­rer­seits die Beein­flus­sung durch nicht-bio­lo­gische Fak­to­ren (mög­li­cher­wei­se) in den Hin­ter­grund. Dies ist für die Soziale Arbeit hoch­re­le­vant, wie im wei­te­ren Ver­lauf auf­ge­zeigt wird.

Domi­nan­ter Medi­ka­li­sie­rungs­dis­kurs und die Fol­gen für die Soziale Arbeit
Nach­fol­gend wird anhand des Begriffs respek­tive der Per­spek­tive der Medi­ka­li­sie­rung auf­ge­zeigt, was die Domi­nanz des bio­lo­gisch-­me­di­zi­ni­schen Dis­kur­ses für die Soziale Arbeit bedeu­tet. Mit Medi­ka­li­sie­rung wird ein Pro­zess bezeich­net, in des­sen Ver­lauf bestimmte For­men des Erle­bens oder Ver­hal­tens, die bis dahin ent­we­der als nor­mal bzw. natür­lich ange­se­hen wur­den oder als von der Nor­ma­li­tät abwei­chend, aber nicht als krank betrach­tet wur­den, als Krank­heit defi­niert wer­den (Con­rad, 2006 [1976], 2007, zit. in Kilian, 2012, S. 939). Die Per­spek­tive der Medi­ka­li­sie­rung abwei­chen­den Ver­hal­tens ist eng mit dem Ansatz sozia­ler Kon­trolle abwei­chen­den Ver­hal­tens ver­wandt. Die­ser geht davon aus, dass jede Gesell­schaft Mecha­nis­men zur Auf­recht­er­hal­tung sozia­ler Nor­men und zur Sicher­stel­lung der Erfül­lung sozia­ler Rol­lenan­for­de­run­gen benö­tigt (Durk­heim, 1982 [1895]; Erik­son 1978 (1966), zit. in ebd., S. 936). Mit der Medi­ka­li­sie­rung wird die Form gesell­schaft­li­cher Kon­trolle von nicht­me­di­zi­ni­schen (z.B. Jus­tiz) auf medi­zi­ni­sche Insti­tu­tio­nen ver­la­gert. Kilian (2021, S. 939) führt aus, dass in frü­hen Ana­ly­sen vor allem das Domi­nanzstreben der medi­zi­ni­schen Pro­fes­sio­nen als mass­ge­bli­che Ursa­che von Medi­ka­li­sie­rungsprozessen ange­se­hen wur­de. Mitt­ler­weile zeich­net sich gemäss dem Autor eine erwei­terte Per­spek­tive ab, die unter ande­rem die Ent­wick­lung und Ver­mark­tung der Bio­tech­no­lo­gie, die Selbst­hil­fe­be­we­gung und die Ent­wick­lung des Mana­ged Care Sys­tems als wesent­li­che Trieb­kräfte der fort­schrei­ten­den Medi­ka­li­sie­rung betrach­tet (Con­rad, 2005, 2007; Con­rad & Lei­ter, 2004, zit. in ebd., S. 939).

Auch die Res­sour­cen­al­lo­ka­tion ist an den Medi­ka­li­sie­rungs­dis­kurs geknüpft: So ist der wach­sende Res­sour­cen­be­darf im Gesund­heits­we­sen unter ande­rem auf die stei­gende Lebens­er­war­tung (de­mo­gra­fi­scher Wan­del) und den damit ein­her­ge­hen­den Zuwachs an mul­ti­mor­bi­den, chro­nisch erkrank­ten Men­schen sowie den Bedarf an ent­spre­chen­der medi­zi­ni­scher Ver­sor­gung zurück­zu­füh­ren (Beske 2016; Breyer 2016; Cas­sel; Post­ler 2007, zit. in Bos­sert & Strech, S. 753). Indes ist auch die zuneh­mende Medi­ka­li­sie­rung der Gesell­schaft ein Kos­ten­trei­ber, das heisst, die Medi­zin wei­tet ihr Auf­ga­ben­ge­biet immer wei­ter auf gesell­schaft­li­che Pro­bleme und Leben­s­pha­sen aus (Con­rad, 2007, zit. in ebd., S. 753).

Zwi­schen dem Gesund­heits­we­sen und der Sozia­len Arbeit gibt es ver­schie­dene Berüh­rungs­punk­te. Dies nicht zuletzt, weil Nut­zende von Dienst­leis­tun­gen der Sozia­len Arbeit in vie­len Fäl­len auch von gesund­heit­li­chen Ein­schrän­kun­gen, wie auch psy­chi­schen Erkran­kun­gen, betrof­fen sind. In den USA ist der Bereich «Men­tal Heal­th» laut Som­mer­feld, Däl­len­bach, Rüeg­ger und Hol­len­stein (2016, S. 10) ein Haupt­be­tä­ti­gungs­feld der Sozia­len Arbeit, und «Cli­ni­cal Social Work» kann dort als voll­stän­dig aka­de­mi­sierte Pro­fes­sion ange­se­hen wer­den. Die Soziale Arbeit ist seit den 1970er Jah­ren eine bedeu­tende Pro­fes­sion im Kon­text psy­chi­scher Krank­heit gewor­den, die einen gros­sen Teil der Ver­sor­gung und Behand­lung psy­chisch Kran­ker gewähr­leis­tet (eb­d.). Im deutsch­spra­chi­gen Raum prä­sen­tiert sich die Situa­tion anders. Hier ist der domi­nante Dis­kurs der medi­zi­ni­sche (Quin­del, 2004, zit. in ebd.), der domi­nante Modus in der inter­pro­fes­sio­nel­len Koope­ra­tion im Gesund­heits­we­sen jener der «De­le­ga­tion» (Hol­len­stein & Som­mer­feld, 2009, zit. in ebd., S.11). Som­mer­feld et al. (eb­d., S. 11) hal­ten fest, dass die Soziale Arbeit zwar von den in der Gesund­heits­ver­sor­gung eta­blier­ten Dis­zi­pli­nen (Me­di­zin, Psy­cho­lo­gie, Psych­ia­trie) hoch geschätzt wird, aber in dem Zuschnitt, wel­cher aus deren Sicht sinn­voll erscheint. Die Autor*in­nen kom­men zum Schluss, dass die Soziale Arbeit in der Psych­ia­trie die Form einer funk­tio­nal eng­ge­führ­ten Hilfspro­fes­sion hat (Som­mer­feld & Rüeg­ger, 2013, zit. in ebd., S. 11).

Span­nungs­feld zwi­schen den Professionen
Wie bereits aus­ge­führt, über­schnei­den sich die Zustän­dig­kei­ten des Gesund­heits­we­sens und der Sozia­len Arbeit bei einem Teil der Pati­ent*in­nen auf­grund mul­ti­per­spek­ti­vi­scher Pro­blem­la­gen (Bei­spiel Armut und Gesund­heit), die auf Über­schnei­dun­gen von Sozi­al­struk­tur­ka­te­go­ri­en, wie Alter, Geschlecht oder sozio­öko­no­mi­scher Sta­tus, zurück­ge­führt wer­den kön­nen. In der Arbeit mit die­sen Men­schen kön­nen auf­grund des domi­nan­ten Medi­ka­li­sie­rungs­dis­kur­ses und der Tat­sa­che, dass psy­chi­sche Krank­heit als sozia­les Pro­blem pri­mär medi­zi­nisch gef­ramt ist, Span­nungs­fel­der zwi­schen respek­tive ent­lang des Selbst­ver­ständ­nis­ses und Kon­zep­ten bei­der Pro­fes­sio­nen ent­ste­hen. Als Stich­worte kön­nen hier, nebst der Medi­ka­li­sie­rung, auch die Indi­vi­dua­li­sie­rung von gesund­heit­li­chen Pro­blem­la­gen oder Respon­si­bi­li­sie­rungs­ten­den­zen genannt wer­den. Im Gegen­satz dazu bekennt sich die Soziale Arbeit zu einer ganz­heit­li­chen Per­spek­tive auf die Lebens­füh­rung, zu Chan­cen­gleich­heit sowie sozia­ler Inte­gra­tion. Sie ver­sucht dem Anspruch nach­zu­kom­men, immer auch die sozia­len Ver­hält­nisse im Blick zu haben und Lösun­gen für struk­tu­relle Pro­bleme anzu­bie­ten (Ave­nir Social, 2010). Das besagte Span­nungs­feld wird durch Kon­zep­te, wie bei­spiels­weise jenes der Gesund­heits­kom­pe­tenz, das aus einer kri­ti­schen Per­spek­tive der Sozia­len Arbeit als neo­li­be­ral und indi­vi­dua­li­sie­rend bewer­tet wird, zusätz­lich befeuert.

Nach Kilian (2012, S. 947) bil­det die soziale und beruf­li­che Rein­te­gra­tion chro­nisch psy­chisch kran­ker Men­schen ein bis­lang unge­lös­tes Pro­blem. So besteht ins­be­son­dere für Men­schen mit chro­nisch schi­zo­phre­nen Erkran­kun­gen nach wie vor ein hohes Risiko sozia­ler Iso­la­tion (Ki­lian et al., 2000, 2001; Leff & War­ner, 2006, zit. in ebd.) und beruf­li­cher Des­in­te­gra­tion (Ki­lian & Becker, 2005; Leff & War­ner, 2006; Rie­del et al., 1998, zit. in ebd.). Die Bear­bei­tung die­ser Fel­der gehört tra­di­tio­nell ins Wir­kungs­ge­biet der Sozia­len Arbeit. Dies ist ein zen­tra­les Argu­ment für inte­grierte und inter­pro­fes­sio­nell geteilte Behand­lungs­an­sätze psy­chischer Erkran­kun­gen. Sol­che Ansätze set­zen indes ein gemein­sa­mes Pro­blem­ver­ständ­nis vor­aus, in wel­chem unter­schied­li­che Ein­fluss­fak­to­ren auf psy­chische Krank­heit und Gesund­heit berück­sich­tigt wer­den. Das nächste Kapi­tel wid­met sich die­sem Thema.

Ein­fluss­fak­to­ren auf die (psy­chi­sche) Gesundheit
Die Gesund­heit von Men­schen und Gemein­schaf­ten wird durch unter­schied­li­che Fak­to­ren beeinflusst:

«Many fac­tors com­bine together to affect the health of indi­vi­du­als and com­mu­ni­ties. Whe­ther peo­ple are heal­thy or not, is deter­mi­ned by their cir­cum­stan­ces and envi­ron­ment. To a large extent, fac­tors such as where we live, the state of our envi­ron­ment, gene­tics, our income and edu­ca­tion level, and our rela­ti­on­ships with fri­ends and family all have con­si­de­ra­ble impacts on heal­th, whe­reas the more com­monly con­si­de­red fac­tors such as access and use of health care ser­vices often have less of an impact» (WHO, 2017).

Gemäss WHO bein­hal­ten diese Gesund­heits­fak­to­ren «the social and eco­no­mic envi­ron­ment, the phy­si­cal envi­ron­ment, and the per­son’s indi­vi­dual cha­rac­te­ri­stics and behaviours» (eb­d.). Das von Dahl­gren und White (1991) ent­wi­ckelte Modell (Ab­bil­dung 3) der Gesund­heits­de­ter­mi­nan­ten zeigt die Fak­to­ren in Form unter­schied­li­cher Schichten.

The-main-determinants-of-health
Abbildung 3. The main determinants of health. Dahlgren & Whitehead, 1991, S. 11.

Gemäss BAG (2021) sind die Res­sour­cen der ein­zel­nen Men­schen zur Risi­ko­be­wäl­ti­gung ungleich ver­teilt. Es wird von einer oft­mals ungüns­ti­gen Wech­sel­wir­kung zwi­schen den sozia­len Gesund­heits­de­ter­mi­nan­ten auf der einen und dem Gesund­heits­ver­hal­ten sowie dem Gesund­heits­zu­stand auf der ande­ren Seite gespro­chen. Neben klas­si­schen sozia­len Deter­mi­nan­ten wie Bil­dung, Beruf und Ein­kom­men wir­ken auch Geschlecht, Fami­li­en­stand, Migra­ti­ons­hin­ter­grund und die psy­chi­sche Gesund­heit auf den Umgang mit Gesund­heitsrisiken ein (eb­d.). Die hier ange­spro­chene soziale Dimen­sion ist ins­be­son­dere für die Soziale Arbeit anschluss­fä­hig und öff­net die Dis­kus­sion für die The­men der (ge­sund­heit­li­chen) Chan­cen­gleich­heit und -gerechtigkeit.

Sozi­al­ar­bei­te­risch gepräg­ter Dis­kurs (noch) nicht mehrheitsfähig
Die bis­he­ri­gen Aus­füh­run­gen haben gezeigt, dass (psy­chi­sche) Gesund­heit durch unter­schied­li­che Fak­to­ren beein­flusst wird, so auch durch die per­sön­li­chen und sozia­len Leben­sum­stän­de. Die Zusam­men­hänge zwi­schen sozia­ler Ungleich­heit und Gesund­heit sind belegt. Gemäss GFCH, dem BAG und der Kon­fe­renz der kan­to­na­len Gesund­heitsdirektorinnen und -di­rek­to­ren (2020, S. 36-37) wei­sen sozial benach­tei­ligte Men­schen gleich­zei­tig ein erhöh­tes Aus­mass an Belas­tun­gen und ein Defi­zit an Res­sour­cen auf. Diese Belas­tun­gen und Res­sour­cendefizite wir­ken sich kon­kret und ent­schei­dend auf die Gesund­heit einer Per­son aus. Erkran­kun­gen und Ein­schrän­kun­gen kön­nen sich umge­kehrt auf die soziale Lage einer Per­son auswir­ken, so zum Bei­spiel auf den Ver­bleib oder die Rein­te­gra­tion von Men­schen mit schwe­ren psy­chi­schen Erkran­kun­gen in den Arbeits­markt (ebd.).

Das Modell der Gesund­heits­de­ter­mi­nan­ten wie­derum ist breit rezi­piert, aner­kannt, empi­risch belegt und inte­grier­ter Bestand­teil von natio­na­len Gesund­heits­s­tra­te­gien (so bei­spiels­weise der Natio­na­len Stra­te­gie zur Prä­ven­tion nicht­über­trag­ba­rer Krank­hei­ten). Auf­grund der ganz­heit­li­chen Per­spek­tive ist das Modell für die Soziale Arbeit beson­ders anschluss­fä­hig, weil es eine erwei­tere Sicht­weise auf Gesund­heit respek­tive psy­chi­sche Krank­heit ermög­licht, die die Lebens­welt der Nut­zen­den abbildet.

Gleich­wohl domi­niert nach wie vor der Medi­ka­li­sie­rungs­dis­kurs mit der Kon­se­quenz, dass den äus­se­ren Deter­mi­nan­ten des Gesund­heits­de­ter­mi­nan­ten­mo­dells (zu) wenig Beach­tung geschenkt wird. Die Fol­gen die­ses Umstan­des sind, wie bereits erwähnt, Respon­si­bi­li­sie­rungs- und Indi­vi­dua­li­sie­rungs­ten­den­zen (bei ver­schie­de­nen Akteur*in­nen, bei­spiels­weise in der Poli­tik) mit nach­tei­li­gen Fol­gen pri­mär für die Nut­zen­den der Sozia­len Arbeit, aber in letz­ter Kon­se­quenz auch für die Pro­fes­sion der Sozia­len Arbeit, der es bis heute nicht oder zu wenig gelun­gen ist, ihr Fach­ge­biet zu beset­zen und sich mit ihren Deu­tun­gen und Lösungs­vor­schlä­gen absch­lies­send Gehör zu ver­schaf­fen. Dies führt nicht nur zum von Som­mer­feld et al. (2016) kon­sta­tier­ten Umstand, dass die Soziale Arbeit als eine Hilfspro­fes­sion wahr­ge­nom­men wird, son­dern aus­ser­dem zu einer eng­ge­führ­ten Vor­stel­lung des Kon­strukts psy­chi­sche Krankheit.

Fazit
Wie vor­aus­ge­hend dar­ge­legt wird, ist ein bio­lo­gisch-­me­di­zi­ni­sches Ver­ständ­nis psy­chi­scher Krank­heit heut­zu­tage domi­nant und dis­kur­sprä­gend. Die­ses Ver­ständ­nis wurde als eng bezeich­net, da es die sozia­len Deter­mi­nan­ten von Gesund­heit und Krank­heit ver­nach­läs­sigt, was – wie beschrie­ben – Ein­fluss auf die Posi­tio­nie­rung der Sozia­len Arbeit wie auch auf direkt Betrof­fene aus­übt. Denn die Pro­blem­be­ar­bei­tung fokus­siert infol­ge­des­sen stark auf Indi­vi­du­en. Die­sen wird ange­ra­ten, über Stress zu spre­chen, durch­zuat­men oder sich in the­ra­peu­ti­sche Behand­lung zu bege­ben. Das psy­chi­sche Wohl­be­fin­den wird so zuneh­mend in die Berei­che der Eigen­ver­ant­wor­tung und Selbst­re­gu­lie­rung trans­por­tiert (An­horn & Bal­ze­reit, 2016, S. 6). Dies hat auch weit­rei­chende Fol­gen, wenn es um die Ver­ant­wor­tungs­zu­schrei­bung für Gesund­heit und Krank­heit geht, wel­che im glei­chen Sinne ver­mehrt im indi­vi­du­el­len Bereich ver­or­tet wird. Da Soziale Arbeit gemäss ihrem eige­nen Berufs­ko­dex (2010) immer auch Gesell­schaft und nicht nur Indi­vi­duen im Fokus haben soll­te, ist die­ser Ent­wick­lung etwas ent­ge­gen­zu­hal­ten. Im Fol­gen­den wer­den ent­spre­chende Ansätze skizziert.

Eigene Pra­xis kri­tisch reflektieren
Soziale Arbeit ist im Sinne des «so­cial pro­blems work» stets auch sel­ber Teil der Repro­duk­tion eta­blier­ter sozia­ler Pro­blem­ver­ständ­nisse und deren domi­nan­ten Dis­kurse (Gro­e­ne­meyer, 2010, S. 17). Folg­lich kann sowohl davon aus­ge­gan­gen, als in der Pra­xis auch beob­ach­tet wer­den, dass die Soziale Arbeit selbst ein eng gefass­tes Pro­blem­ver­ständ­nis psy­chi­scher Krank­heit in ihren Insti­tu­tio­nen und Pra­xen reproduziert.

Die eige­nen Pra­xen gilt es folg­lich immer wie­der kri­tisch auf Repro­duk­tio­nen domi­nan­ter Pro­blem­kon­struk­tio­nen und deren Aus­wir­kun­gen hin zu reflek­tie­ren. Auch Kon­zepte wie jenes der Gesund­heits­för­de­rung oder Begriffe wie Empo­wer­ment sol­len dahin­ge­hend befragt wer­den, mit wel­chen Denk­wei­sen und Dis­kur­sen sie ver­bun­den sind oder werden.

Theo­re­ti­sches Wis­sen als Grund­lage inter­pro­fes­sio­nel­ler Zusammenarbeit
Hilf­reich oder sogar not­wen­dig für eine sol­che Refle­xi­ons­tä­tig­keit ist das Wis­sen um theo­re­ti­sche Model­le, wie bei­spiels­weise jenes der Gesund­heits­de­ter­mi­nan­ten. Erfah­run­gen in und Rück­mel­dun­gen aus der Pra­xis zei­gen jedoch, dass sol­ches Wis­sen wei­test­ge­hend fehlt. Dies mag erstau­nen. Denn wie dar­ge­legt, trifft die Soziale Arbeit in vie­len Hand­lungs­fel­dern auf Men­schen, wel­che als psy­chisch belas­tet oder erkrankt ver­stan­den wer­den. Über­schnei­dun­gen mit dem Gesund­heits­be­reich sind zudem viel­fäl­tig, und eine koope­ra­tive inter­pro­fes­sio­nelle Zusam­men­ar­beit, wel­che die Soziale Arbeit nicht als Hilfspro­fes­sion ver­steht, wird gefor­dert. Hier sind nach Ansicht der Auto­rin­nen schon Aus­bil­dungs­in­sti­tu­tio­nen in der Ver­ant­wor­tung, zukünf­ti­gen Fach­per­so­nen sol­che eta­blier­ten, anschluss­fä­hi­gen Modelle als Argu­men­ta­rium zu ver­mit­teln. Die Soziale Arbeit könnte auf diese Weise zur Ver­brei­tung eines – eigent­lich aner­kann­ten – breit gefass­ten Krank­heits- und Gesund­heits­ver­ständ­nis­ses bei­tra­gen. Dar­auf liesse sich wie­derum eine eben­bür­ti­gere inter­pro­fes­sio­nelle Zusam­men­ar­beit aufbauen.

Nut­zen von Gelegenheitsfenstern
Nebst der Selbs­t­re­fle­xion und dem Auf­bau einer Wis­sens­ba­sis bekommt die Soziale Arbeit von der Sozio­lo­gie sozia­ler Pro­bleme auch Hin­weise dazu, wie sie sich bei­spiels­weise im Sinne des Claims Making durch geschick­tes Agenda Set­ting in der öffent­li­chen Auf­merk­sam­keit stär­ker Gehör ver­schaf­fen und sich in beste­hende Dis­kurse ein­brin­gen oder diese beein­flus­sen kann. So han­delt es sich bei der domi­nan­ten und dis­kur­sprä­gen­den Medi­ka­li­sie­rung um einen rever­si­blen und mul­ti­di­men­sio­na­len Pro­zess, und die ent­spre­chen­den Prak­ti­ken kön­nen sich ändern: So wie Phä­no­mene zu medi­zi­ni­schen Pro­blemen gemacht wer­den kön­nen, kön­nen sie auch wie­der aus dem Zustän­dig­keits­be­reich der Medi­zin gera­ten (Pe­ter & Neu­bert, 2016, S. 275).

Als Mög­lich­keit bie­tet sich hier­bei die Coro­na-Pan­de­mie als «Brenn­glas» an. Denn nebst der psy­chi­schen Krank­heit stand auch das Pro­blem Armut stär­ker im Fokus. Diese Situa­tion kann als Gele­gen­heits­fens­ter genutzt wer­den, um noch stär­ker auf den Zusam­men­hang zwi­schen Krank­heit und Armut auf­merk­sam zu machen. Empi­ri­sche Unter­su­chun­gen wie auch theo­re­ti­sche Modelle dazu sind vor­han­den, wie die­ser Arti­kel auf­ge­zeigt hat. Pas­send dazu spricht Gro­e­ne­meyer (2012, S. 86) davon, bereits eta­blierte Mas­ter­dis­kurse zu ver­än­dern oder aus­zu­wei­ten. Psy­chi­sche Krank­heit und Armut sieht er als sol­che Mas­ter­dis­kurse an, wel­che über eine län­gere his­to­ri­sche Tra­di­tion und grund­sätz­lich hohe Aner­ken­nung ver­fü­gen. Diese bei­den gilt es zu verbinden.

Die Cari­tas ist in der Ver­gan­gen­heit mit gutem Bei­spiel voran gegan­gen (Cari­tas Bern, 2019). Denn: Armut macht krank, Krank­heit macht krank – das müsste nun eigent­lich allen klar sein.


Zitier­vor­schlag: Zwah­len, Eva & Mar­tin, Mir­jam. (2021). Psy­chi­sche Krank­heit als sozia­les Pro­blem. Alter­na­tive Pro­blem­kon­struk­tion aus Sicht der Sozia­len Arbeit [Fach­ar­ti­kel aus dem Mas­ter­stu­dien­gang Soziale Arbeit der Ber­ner Fach­hoch­schule BFH]. Ber­ner Fach­hoch­schule - Soziale Arbeit: Bern.


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