Die seit über einem Jahr andau­ernde Coro­na-Pan­de­mie wird verschie­dent­lich als «Brenn­glas» sozia­ler Probleme bezeich­net (Bun­des­amt für Gesund­heit, 2020, o.S.; Stocker, Jäggi, Liech­ti, Schläp­fer, Németh & Künzi, 2020, S. 49). Soziale Probleme erlan­gen einer­seits in der Öffent­lich­keit vermehrte Aufmerk­sam­keit, ande­rer­seits führte die Pande­mie zur Verstär­kung vorhan­de­ner Tenden­zen. Dies zeigte sich eindrück­lich an der Armuts­pro­ble­ma­tik. So waren Bilder von langen Warte­schlan­gen, in welchen Menschen stun­den­lang für Essen ange­stan­den sind, in den Medien präsent (Schwei­zer Radio und Fern­se­hen, 2021). Auch psychi­sche Erkran­kun­gen erlang­ten im vergan­ge­nen Jahr vermehrte Aufmerk­sam­keit. Dieser Arti­kel befasst sich damit, wie psychi­sche Krank­heit als sozia­les Problem aus sozio­lo­gi­scher Perspek­tive verstan­den wird.

Es wird den Fragen nach­ge­gan­gen, wie sich Problem­wahr­neh­mun­gen über psychi­sche Krank­heit histo­risch verän­dert haben, welche Diskurse heute prägend sind und welche Folgen dies für die Profes­sion der Sozia­len Arbeit hat. Zudem wird aufge­zeigt, welches Problem­ver­ständ­nis psychi­scher Krank­heit an das Selbst­ver­ständ­nis der Sozia­len Arbeit anschluss­fä­hig ist und wie die «Pan­de­mie als Brenn­glas» genutzt werden kann, um Perspek­ti­ven der Sozia­len Arbeit vermehrt in Diskurse einzubringen.

Text: Eva Zwah­len & Mirjam Martin, Master­stu­den­tin­nen Soziale Arbeit BFH

Psychi­sche Erkran­kun­gen stehen seit Beginn der Coro­na-Pan­de­mie verstärkt in der Aufmerk­sam­keit von Poli­tik und Öffent­lich­keit. Dies lässt sich daran aufzei­gen, dass diverse neue Ange­bote zur Präven­tion und Behand­lung geschaf­fen, Studien in Auftrag gege­ben und Veran­stal­tun­gen durch­ge­führt wurden. Auf einer neu geschaf­fe­nen Webseite des Bundes­am­tes für Gesund­heit (BAG), der Stif­tung Gesund­heitsförderung Schweiz (GFCH) und weite­ren Akteur*in­nen aus dem Gesund­heitsbereich wurden Menschen mit Tipps zur Pflege der psychi­schen Gesund­heit versorgt. Mehrere Studien zur Thema­tik wurden und werden durch­ge­führt, so beispiels­weise die Swiss Corona Stress Study der Univer­si­tät Basel (2021) oder die im Auftrag des BAG durch­ge­führte Studie über den Einfluss der Coro­na-Pan­de­mie auf die psychi­sche Gesund­heit der Schwei­zer Bevöl­ke­rung (Sto­cker et al., 2020). Diese und weitere Studien konsta­tier­ten vor allem in der zwei­ten Coro­na-Welle (gegen Ende des Jahres 2020) eine Zunahme psychi­scher Belas­tun­gen und Erkran­kun­gen (Kess­ler & Guggen­bühl, 2021).

Es stellt sich aus wissen­schaft­li­cher Sicht die Frage, was eigent­lich damit gemeint ist, wenn über psychi­sche Krank­heit gespro­chen wird. Die Sozio­lo­gie sozia­ler Proble­me, welche auch psychi­sche Krank­heit als ein solches sozia­les Problem versteht, bietet hier Erklärungsansätze.

Sozio­lo­gie sozia­ler Probleme
In der US-ame­ri­ka­ni­schen Sozio­lo­gie wird seit über einem Jahr­hun­dert von «social problems» gespro­chen (Gro­en­e­mey­er, 2012, S. 17). Auch im deut­schen Sprach­raum wurden sozio­lo­gi­sche Verei­ni­gun­gen gegrün­det, welche sich der Unter­su­chung sozia­ler Probleme widme­ten, und zahl­rei­che Bücher wurden zur Thema­tik verfasst. Was unter sozia­len Proble­men genau verstan­den wird, bleibt dennoch unklar. Es exis­tiert eine Viel­zahl an Defi­ni­tio­nen, unter­schied­lichste Phäno­mene wie beispiels­weise Drogen­kon­sum, Frau­en­dis­kri­mi­nie­rung oder Arbeits­lo­sig­keit werden darun­ter subsum­miert. Groen­e­meyer (ebd., S. 29) nennt drei gemein­same Elemen­te, welche unter­schied­li­che Defi­ni­tio­nen sozia­ler Probleme aufwei­sen: den Aspekt eines Scha­dens, die Bedeu­tung der öffent­li­chen Thema­ti­sie­rung und die Notwen­dig­keit zur Bear­bei­tung oder Lösung.

Nebst der Defi­ni­tion davon, was soziale Probleme sind, geht es der Sozio­lo­gie auch darum aufzu­zei­gen, wie soziale Probleme entste­hen oder viel­mehr herge­stellt werden. Hier­bei werden zwei Sicht­wei­sen unter­schie­den (Gro­en­e­mey­er, 2012, S. 29). Objek­ti­vis­tisch wird ange­nom­men, dass soziale Probleme an sich exis­tie­ren und auf Störun­gen inner­halb der Gesell­schaft hinwei­sen. Es wird dann nach deren Ursa­chen oder Verbrei­tungs­me­cha­nis­men gefragt. Aus konstruk­ti­vis­ti­scher Sicht­weise hinge­gen werden soziale Probleme als Ergeb­nisse «erfolg­rei­cher Proble­ma­ti­sie­rungs­ak­ti­vi­tä­ten kollek­ti­ver Akteure in der Gesell­schaft» (ebd., S. 24) verstan­den. Als Verbin­dung dieser beiden Ansätze entwi­ckelte Sche­tsche (1996) ein objek­ti­vis­ti­sch-­kon­struk­ti­vis­ti­sches Modell. Die Exis­tenz eines «sozia­len Sach­ver­hal­tes» (ebd., S. 12) als Kern­ele­ment versteht er dabei als notwen­dig, aber nicht hinrei­chend für die Entste­hung eines sozia­len Problems. Um diesen sozia­len Sach­ver­halt herum konstru­ie­ren unter­schied­li­che Akteur*in­nen anschlies­send Problem­mus­ter und verwen­den Diskurs­stra­te­gi­en, was zu einer bestimm­ten Problem­wahr­neh­mung führt. Erst durch diesen diskur­si­ven Prozess entsteht das soziale Problem oder nimmt die Problem­kar­riere ihren Lauf. Beispiels­weise wurde der Ausschluss der Frauen vom Stimm- und Wahl­recht als eine Form der Frau­en­dis­kri­mi­nie­rung lange nicht hinter­fragt, und es hat einige Zeit gedau­ert, bis sich dieser soziale Sach­ver­halt als proble­ma­tisch durch­ge­setzt hat. Zur Darstel­lung solcher Problem­kar­rieren werden in der Fach­li­te­ra­tur unter­schied­li­che soge­nannte Karrie­re­mo­delle verwen­det, welche oft mehrere Stufen aufwei­sen. Ein Beispiel dafür ist das in Abbil­dung 1 darge­stellte sechs­stu­fige Modell nach Sche­tsche (1996, S. 31).

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Abbildung 1. Phasen der Problemkarriere. Schetsche, 1996, S. 31.

Das Stufen­mo­dell zeigt auf, dass ein Sach­ver­halt über eine erste Thema­ti­sie­rung als Problem, über die Etablie­rung spezi­fi­scher Problem­mus­ter, über öffent­li­che und schliess­lich staat­li­che Aner­ken­nung zu einem sozia­len Problem gemacht wird. Darauf folgen Mass­nah­men zur Problem­be­kämp­fung und mögli­cher­weise die Lösung des Problems. Jeder dieser Schritte kann schei­tern, was durch die nach unten gerich­te­ten Pfeile ersicht­lich ist.

Da solche Stufen­mo­delle eine starke Linea­ri­tät impli­zie­ren, schlägt Best (2008, S. 329) in Abbil­dung 2 eine alter­na­tive Darstel­lungs­weise vor.

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Abbildung 2. Die Karriere sozialer Probleme. Best, 2008, S. 329, zit. in Groenemeyer, 2010, S. 21.

Für Groen­e­meyer (2010, S. 20) weisen die vielen Pfeile im Modell auf die Schwie­rig­keit oder Unmög­lich­keit hin, die Komple­xi­tät von realen Problem­kar­rie­ren darzu­stel­len. Er begreift das Modell als ein heuris­ti­sches Instru­ment, welches zu verste­hen hilft, wie Konstruk­tio­nen sozia­ler Probleme in verschie­de­nen Arenen, Sphä­ren oder Feldern statt­fin­den. Diese Felder, als recht­eckige Elemente darge­stellt, markie­ren also keine Phasen wie in Sche­tsches Modell, sondern viel­mehr verschie­dene gesell­schaft­li­che Kontex­te, in welchen Konstruk­tio­nen statt­fin­den. Groen­e­meyer et al. (2012, ab S. 117) spre­chen auch von der Poli­tik sozia­ler Proble­me. Denn: «Soziale Probleme sind die Grund­lage und das Mate­rial für sozi­al­po­li­ti­sche Inter­ven­tio­nen, für Krimi­nal- und Gesund­heits­po­li­tik ebenso wie auch für die Soziale Arbeit und viele andere Felder des poli­ti­schen Systems» (ebd., S. 117). Soziale Probleme stel­len dabei stets eine Forde­rung nach Verän­der­bar­keit. Werden gesell­schaft­li­che Struk­tu­ren als von einer höhe­ren Macht deter­mi­niert verstan­den, gibt es keine solchen.

Soziale Probleme sind zusam­men­fas­send als gesell­schaft­lich und somit histo­risch wie auch kultu­rell geprägte Konstruk­tio­nen zu verste­hen. Groen­e­meyer (2012, S. 34) nennt sie Produkte moder­ner Gesellschaften.

Psychi­sche Krank­heit als gött­li­che Stra­fe, Beses­sen­heit oder mangelnde Vernunft
Im Folgen­den wird aufge­zeigt, wie das soziale Problem psychi­sche Krank­heit über die Zeit unter­schied­lich konstru­iert wurde. Kilian (2012, ab S. 924) gibt einen Über­blick über diesen Verlauf, welcher kurz zusam­men­ge­fasst wird. Der Über­blick zeigt auf, dass über die Jahr­hun­derte stark diver­gie­rende Problem­wahr­neh­mun­gen vorherr­schend waren, welche mit unter­schied­lich durch­set­zungs­star­ken Akteur*in­nen in Verbin­dung stehen. Das Wissen um die histo­ri­schen Konstruk­tio­nen eines sozia­len Problems ist darüber hinaus hilf­reich für ein Verständ­nis heuti­ger Diskurse über psychi­sche Krank­heit.

In der anti­ken Mythologie wurden Wahn­sinn oder Verwir­run­gen des Geis­tes nicht als Erkran­kung, sondern als Ausdruck gött­li­cher oder dämo­ni­scher Kräfte als eine Art Gabe verstan­den (ebd., S. 930).

Erst­mals entwi­ckel­ten die :Hip­po­kra­ti­ker ab ca. 400 vor Chris­tus_ eine Krank­heits­vor­stel­lung, die als humo­ral­pa­tho­lo­gi­sche bezeich­net wird. Störun­gen des Verhält­nis­ses der vier Körper­säfte Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle werden dabei als krank machend verstanden.

Im Mittelalter erfolgte ein klarer Bruch zur Vorstel­lung von Krank­heit, welche körper­lich bedingt ist, hin zu einer theo­lo­gisch gepräg­ten Deutung (ebd., S. 930). Das wich­tigste Element war die Annahme einer realen Exis­tenz Satans und dazu­ge­hö­ri­gen Dämo­nen. Symptome wurden als Beses­sen­heit gewer­tet und Betrof­fe­nen muss­ten die bösen Kräfte ausge­trie­ben werden, bis hin zum Tod.

Spätes­tens seit dem 15. Jahrhundert wurden ergän­zend in Spanien und weite­ren Teilen Euro­pas, geprägt durch die arabi­sch-is­la­mi­sche Welt, ratio­nale medi­zi­ni­sche Erklä­run­gen über Geis­tes­krank­hei­ten entwi­ckelt (ebd., S. 931). Diese wurden durch reli­giöse Glau­bens­ver­tre­tende jedoch offen­siv bekämpft und erlang­ten wenig Einfluss.

In der Aufklärung ab dem 17. Jahr­hun­dert wurden Geis­tes­krank­hei­ten wie auch andere Formen sozia­ler Abwei­chung zuneh­mend als mangelnde Vernunft und mora­li­sche Verfeh­lung gewer­tet. Diesen Abwei­chungen wurde mit der Bekämp­fung in Form des Einsper­rens in Armen- oder Irren­häu­ser begeg­net, was durch unter­schied­li­che Auto­r*in­nen als Beginn eines gesell­schaft­li­chen Diszi­pli­nie­rungs­pro­zes­ses verstan­den wird, welcher eine Voraus­set­zung für die erfolg­rei­che Etablie­rung des kapi­ta­lis­ti­schen Wirt­schafts­sys­tems darstellt (ebd., S. 931).

Im späten 18. Jahrhundert setzte sich ein biolo­gi­sches Krank­heits­ver­ständ­nis durch, welches neuro­a­na­to­mi­sche Anoma­lien des Gehirns und Erblich­keit als Ursa­chen psychi­scher Krank­heit betrachtete.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts fand eine Abkehr der neuro­a­na­to­mi­schen Bewer­tung statt. Diese liess sich durch Forschun­gen nicht bestä­ti­gen. Im glei­chen Zeit­raum entwi­ckelte Sigmund Freud die Psycho­ana­ly­se. Diese geht – wiederum in Abkehr zu einem biolo­gi­schen Verständ­nis – erst­mals von konflikt­haf­ten Bezie­hun­gen zwischen dem Indi­vi­duum und seiner Umwelt als Erklä­rung psychi­scher Krank­heit aus. Die Psycho­ana­lyse entwi­ckelte sich schliess­lich ausge­hend von den USA und bis in die 1960er Jahre zur führen­den Lehr­mei­nung (ebd., S. 933).

Im zwei­ten Weltkrieg verstärkte sich in Euro­pa, vor allem in Deutsch­land, die Sicht­weise der Erblich­keit und erbli­chen Dege­ne­ra­tion psychi­scher Erkran­kun­gen, was bekann­ter­weise zu unzäh­li­gen Opfern der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Vernich­tun­gen führte (ebd., S. 932).

Mit der Entde­ckung der Wirkung von Psycho­phar­maka begann in der zwei­ten Hälfte des 20. Jahr­hun­derts deren Ausbrei­tung (ebd., S. 933). Psychi­sche Erkran­kun­gen wurden zu Störun­gen des Stoff­wech­sels im Gehirn und damit wieder – als Gegen­satz zur Psycho­ana­lyse – an einer biolo­gi­schen Kompo­nente festgemacht.

Im Rahmen der gesell­schaft­li­chen Umbrü­che in den 1960er Jahren kam es zu einer Anti­psych­ia­trie­be­we­gung, welche sich vehe­ment gegen die gängige medi­zi­ni­sch-­na­tur­wis­sen­schaft­li­che Sicht­weise stellte (ebd., S. 934). Die Exis­tenz psychi­scher Krank­hei­ten wurde zum Mythos. Diagno­sen wurden dahin­ge­hend kriti­siert, dass sie durch eine Etiket­tie­rung von sozia­ler Abwei­chung dem Erhalt kapi­ta­lis­ti­scher Macht­ver­hält­nisse dien­ten. Dies führte in den 70er Jahren zu einer Psych­ia­trie­re­form, in deren Rahmen Klinik­plätze abge­baut wurden.

Dieser zusam­men­ge­fasste histo­ri­sche Abriss ist nicht voll­stän­dig und die Eintei­lung gewis­ser Vorstel­lun­gen in Jahr­hun­derte oder histo­ri­sche Epochen vermit­telt ein zu stark verein­fach­tes Bild. Problem­ver­ständ­nisse treten in der Zeit viel­mehr über­lap­pend, sich wider­spre­chend oder ergän­zend auf (ebd., S. 930). So gibt es unter­schied­li­che Erklä­rungs­mus­ter verschie­de­ner spezi­fi­scher psychi­scher Erkran­kun­gen und es werden histo­risch jeweils unter­schied­li­che Phäno­mene als zu psychi­scher Krank­hei­ten zuge­hö­rig verstan­den. Diagno­sen werden konstru­iert, blei­ben oder verschwin­den wieder. Dies lässt sich anschau­lich an den verän­der­ten Inhal­ten der beiden gängi­gen Diagno­se­ma­nua­len psychi­scher Erkran­kun­gen, dem Inter­na­tio­nal Stati­s­ti­cal Clas­si­fi­ca­tion of Disea­ses and Rela­ted Health Problems (ICD) 10 (Kapi­tel 5) der World Health Orga­ni­sa­tion (WHO) und dem Diagno­stic and Stati­s­ti­cal Manual of Mental Disor­ders (DSM) V der Ameri­can Psycho­lo­gi­cal Asso­cia­tion (APA), aufzei­gen. Diese wurden nach dem Zwei­ten Welt­krieg begrün­det, wobei beispiels­weise Homo­se­xua­li­tät noch in den 1970er Jahren als Krank­heit aufge­führt wurde. Die ICD-10 wird heut­zu­tage auch als Grund­lage zur Aner­ken­nung von psychi­schen Krank­heitsbildern durch die Inva­li­den­ver­si­che­rung der Schweiz verwendet.

Grund­sätz­lich kann fest­ge­hal­ten werden, dass sich die Vorstel­lun­gen von psychi­scher Krank­heit als sozia­les Problem von der gött­li­chen Bestra­fung, zur Beses­sen­heit böser Kräf­te, mangeln­der Vernunft, einer Anoma­lie des Gehirns, konflikt­haf­ten Bezie­hun­gen, einem Mythos bis zu einer zereb­ra­len Stoff­wech­sel­stö­rung wandelten.

Psychi­sche Krank­heit aktu­ell – neuere Entwicklungen
Psychi­sche Erkran­kun­gen werden von der WHO als ein zuneh­men­des Problem moder­ner Gesell­schaf­ten bezeich­net, wobei von einer stei­gen­den Präva­lenz ausge­gan­gen wird (Kili­an, 2012, S. 924). Diese Einschät­zung wird in den letz­ten zwan­zig Jahren von neue­ren Entwick­lun­gen wie dem erhöh­ten Einsatz von Psycho­phar­ma­ka, einer grös­se­ren Behand­lungs­be­reit­schaft oder auch der Inten­si­vie­rung von Präven­tion psychi­scher Erkran­kun­gen beglei­tet (ebd., S. 949). Der Aspekt der Präven­tion zeigt sich auch in den eingangs beschrie­be­nen Akti­vi­tä­ten, wie beispiels­weise der Webseite dureschnufe.ch.

Nach Kilian (ebd., S. 948) wird das Phäno­men psychi­sche Krank­heit heute als neuro­pa­tho­lo­gisch und durch die gene­ti­sche Dispo­si­tion bedingt verstan­den. Viel Hoff­nung wird dabei in die gene­ti­sche und neuro­bio­lo­gi­sche Erfor­schung psychi­scher Krank­heiten gesteckt (Schöny, 2018, S. 21). Die biolo­gi­sch-­me­di­zi­ni­sche Sicht­wei­se, die, wie im vorde­ren Kapi­tel aufge­zeigt wurde, über eine längere Tradi­tion verfügt, scheint demnach heute diskursprä­gend zu sein. Dies gilt auch für deren Akteur*in­nen wie der Psych­ia­trie als medi­zi­ni­sche Diszi­plin als Teil der Naturwissenschaften.

Wird psychi­sche Krank­heit primär biolo­gisch verstan­den, erhält sie einen stark objek­ti­vie­ren­den Charak­ter. Dabei gera­ten einer­seits Aspekte des sozia­len Konstruk­ti­ons­pro­zes­ses und ande­rer­seits die Beein­flus­sung durch nicht-biolo­gische Fakto­ren (mög­li­cher­wei­se) in den Hinter­grund. Dies ist für die Soziale Arbeit hoch­re­le­vant, wie im weite­ren Verlauf aufge­zeigt wird.

Domi­nan­ter Medi­ka­li­sie­rungs­dis­kurs und die Folgen für die Soziale Arbeit
Nach­fol­gend wird anhand des Begriffs respek­tive der Perspek­tive der Medi­ka­li­sie­rung aufge­zeigt, was die Domi­nanz des biolo­gi­sch-­me­di­zi­ni­schen Diskur­ses für die Soziale Arbeit bedeu­tet. Mit Medi­ka­li­sie­rung wird ein Prozess bezeich­net, in dessen Verlauf bestimmte Formen des Erle­bens oder Verhal­tens, die bis dahin entwe­der als normal bzw. natür­lich ange­se­hen wurden oder als von der Norma­li­tät abwei­chend, aber nicht als krank betrach­tet wurden, als Krank­heit defi­niert werden (Con­rad, 2006 [1976], 2007, zit. in Kili­an, 2012, S. 939). Die Perspek­tive der Medi­ka­li­sie­rung abwei­chen­den Verhal­tens ist eng mit dem Ansatz sozia­ler Kontrolle abwei­chen­den Verhal­tens verwandt. Dieser geht davon aus, dass jede Gesell­schaft Mecha­nis­men zur Aufrecht­erhal­tung sozia­ler Normen und zur Sicher­stel­lung der Erfül­lung sozia­ler Rollen­an­for­de­run­gen benö­tigt (Durk­heim, 1982 [1895]; Erikson 1978 (1966), zit. in ebd., S. 936). Mit der Medi­ka­li­sie­rung wird die Form gesell­schaft­li­cher Kontrolle von nicht­me­di­zi­ni­schen (z.B. Justiz) auf medi­zi­ni­sche Insti­tu­tio­nen verla­gert. Kilian (2021, S. 939) führt aus, dass in frühen Analy­sen vor allem das Domi­nanzstreben der medi­zi­ni­schen Profes­sio­nen als mass­geb­li­che Ursa­che von Medi­ka­li­sie­rungsprozessen ange­se­hen wurde. Mitt­ler­weile zeich­net sich gemäss dem Autor eine erwei­terte Perspek­tive ab, die unter ande­rem die Entwick­lung und Vermark­tung der Biotech­no­lo­gie, die Selbst­hil­fe­be­we­gung und die Entwick­lung des Mana­ged Care Systems als wesent­li­che Trieb­kräfte der fort­schrei­ten­den Medi­ka­li­sie­rung betrach­tet (Con­rad, 2005, 2007; Conrad & Leiter, 2004, zit. in ebd., S. 939).

Auch die Ressour­cen­al­lo­ka­tion ist an den Medi­ka­li­sie­rungs­dis­kurs geknüpft: So ist der wach­sende Ressour­cen­be­darf im Gesund­heits­we­sen unter ande­rem auf die stei­gende Lebens­er­war­tung (demo­gra­fi­scher Wandel) und den damit einher­ge­hen­den Zuwachs an multi­mor­bi­den, chro­nisch erkrank­ten Menschen sowie den Bedarf an entspre­chen­der medi­zi­ni­scher Versor­gung zurück­zu­füh­ren (Beske 2016; Breyer 2016; Cassel; Post­ler 2007, zit. in Bossert & Strech, S. 753). Indes ist auch die zuneh­mende Medi­ka­li­sie­rung der Gesell­schaft ein Kosten­trei­ber, das heisst, die Medi­zin weitet ihr Aufga­ben­ge­biet immer weiter auf gesell­schaft­li­che Probleme und Lebens­pha­sen aus (Con­rad, 2007, zit. in ebd., S. 753).

Zwischen dem Gesund­heits­we­sen und der Sozia­len Arbeit gibt es verschie­dene Berüh­rungs­punk­te. Dies nicht zuletzt, weil Nutzende von Dienst­leis­tun­gen der Sozia­len Arbeit in vielen Fällen auch von gesund­heit­li­chen Einschrän­kun­gen, wie auch psychi­schen Erkran­kun­gen, betrof­fen sind. In den USA ist der Bereich «Men­tal Health» laut Sommer­feld, Dällen­bach, Rüeg­ger und Hollen­stein (2016, S. 10) ein Haupt­be­tä­ti­gungs­feld der Sozia­len Arbeit, und «Cli­ni­cal Social Work» kann dort als voll­stän­dig akade­mi­sierte Profes­sion ange­se­hen werden. Die Soziale Arbeit ist seit den 1970er Jahren eine bedeu­tende Profes­sion im Kontext psychi­scher Krank­heit gewor­den, die einen gros­sen Teil der Versor­gung und Behand­lung psychisch Kran­ker gewähr­leis­tet (ebd.). Im deutsch­spra­chi­gen Raum präsen­tiert sich die Situa­tion anders. Hier ist der domi­nante Diskurs der medi­zi­ni­sche (Quin­del, 2004, zit. in ebd.), der domi­nante Modus in der inter­pro­fes­sio­nel­len Koope­ra­tion im Gesund­heits­we­sen jener der «Dele­ga­ti­on» (Hollen­stein & Sommer­feld, 2009, zit. in ebd., S.11). Sommer­feld et al. (ebd., S. 11) halten fest, dass die Soziale Arbeit zwar von den in der Gesund­heits­ver­sor­gung etablier­ten Diszi­pli­nen (Medi­zin, Psycho­lo­gie, Psych­ia­trie) hoch geschätzt wird, aber in dem Zuschnitt, welcher aus deren Sicht sinn­voll erscheint. Die Auto­r*in­nen kommen zum Schluss, dass die Soziale Arbeit in der Psych­ia­trie die Form einer funk­tio­nal engge­führ­ten Hilfs­pro­fes­sion hat (Sommer­feld & Rüeg­ger, 2013, zit. in ebd., S. 11).

Span­nungs­feld zwischen den Professionen
Wie bereits ausge­führt, über­schnei­den sich die Zustän­dig­kei­ten des Gesund­heits­we­sens und der Sozia­len Arbeit bei einem Teil der Pati­en­t*in­nen aufgrund multi­per­spek­ti­vi­scher Problem­la­gen (Bei­spiel Armut und Gesund­heit), die auf Über­schnei­dun­gen von Sozi­al­struk­tur­ka­te­go­ri­en, wie Alter, Geschlecht oder sozio­öko­no­mi­scher Status, zurück­ge­führt werden können. In der Arbeit mit diesen Menschen können aufgrund des domi­nan­ten Medi­ka­li­sie­rungs­dis­kur­ses und der Tatsa­che, dass psychi­sche Krank­heit als sozia­les Problem primär medi­zi­nisch geframt ist, Span­nungs­fel­der zwischen respek­tive entlang des Selbst­ver­ständ­nis­ses und Konzep­ten beider Profes­sio­nen entste­hen. Als Stich­worte können hier, nebst der Medi­ka­li­sie­rung, auch die Indi­vi­dua­li­sie­rung von gesund­heit­li­chen Problem­la­gen oder Respon­si­bi­li­sie­rungs­ten­den­zen genannt werden. Im Gegen­satz dazu bekennt sich die Soziale Arbeit zu einer ganz­heit­li­chen Perspek­tive auf die Lebens­füh­rung, zu Chan­cen­gleich­heit sowie sozia­ler Inte­gra­ti­on. Sie versucht dem Anspruch nach­zu­kom­men, immer auch die sozia­len Verhält­nisse im Blick zu haben und Lösun­gen für struk­tu­relle Probleme anzu­bie­ten (Ave­nir Soci­al, 2010). Das besagte Span­nungs­feld wird durch Konzep­te, wie beispiels­weise jenes der Gesund­heits­kom­pe­tenz, das aus einer kriti­schen Perspek­tive der Sozia­len Arbeit als neoli­be­ral und indi­vi­dua­li­sie­rend bewer­tet wird, zusätz­lich befeuert.

Nach Kilian (2012, S. 947) bildet die soziale und beruf­li­che Reinte­gra­tion chro­nisch psychisch kran­ker Menschen ein bislang unge­lös­tes Problem. So besteht insbe­son­dere für Menschen mit chro­nisch schi­zo­phre­nen Erkran­kun­gen nach wie vor ein hohes Risiko sozia­ler Isola­tion (Kilian et al., 2000, 2001; Leff & Warner, 2006, zit. in ebd.) und beruf­li­cher Desin­te­gra­tion (Kilian & Becker, 2005; Leff & Warner, 2006; Riedel et al., 1998, zit. in ebd.). Die Bear­bei­tung dieser Felder gehört tradi­tio­nell ins Wirkungs­ge­biet der Sozia­len Arbeit. Dies ist ein zentra­les Argu­ment für inte­grierte und inter­pro­fes­sio­nell geteilte Behand­lungs­an­sätze psychi­scher Erkran­kun­gen. Solche Ansätze setzen indes ein gemein­sa­mes Problem­ver­ständ­nis voraus, in welchem unter­schied­li­che Einfluss­fak­to­ren auf psychi­sche Krank­heit und Gesund­heit berück­sich­tigt werden. Das nächste Kapi­tel widmet sich diesem Thema.

Einfluss­fak­to­ren auf die (psy­chi­sche) Gesundheit
Die Gesund­heit von Menschen und Gemein­schaf­ten wird durch unter­schied­li­che Fakto­ren beeinflusst:

«Many factors combine toge­ther to affect the health of indi­vi­du­als and commu­nities. Whether people are healthy or not, is deter­mi­ned by their circum­stan­ces and envi­ron­ment. To a large extent, factors such as where we live, the state of our envi­ron­ment, gene­tics, our income and educa­tion level, and our rela­ti­ons­hips with friends and family all have considera­ble impacts on health, whereas the more commonly conside­red factors such as access and use of health care services often have less of an impact» (WHO, 2017).

Gemäss WHO beinhal­ten diese Gesund­heits­fak­to­ren «the social and econo­mic envi­ron­ment, the physi­cal envi­ron­ment, and the person’s indi­vi­dual charac­te­ris­tics and behaviours» (ebd.). Das von Dahl­gren und White (1991) entwi­ckelte Modell (Abbil­dung 3) der Gesund­heits­de­ter­mi­nan­ten zeigt die Fakto­ren in Form unter­schied­li­cher Schichten.

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Abbildung 3. The main determinants of health. Dahlgren & Whitehead, 1991, S. 11.

Gemäss BAG (2021) sind die Ressour­cen der einzel­nen Menschen zur Risi­ko­be­wäl­ti­gung ungleich verteilt. Es wird von einer oftmals ungüns­ti­gen Wech­sel­wir­kung zwischen den sozia­len Gesund­heits­de­ter­mi­nan­ten auf der einen und dem Gesund­heits­ver­hal­ten sowie dem Gesund­heits­zu­stand auf der ande­ren Seite gespro­chen. Neben klas­si­schen sozia­len Deter­mi­nan­ten wie Bildung, Beruf und Einkom­men wirken auch Geschlecht, Fami­li­en­stand, Migra­ti­ons­hin­ter­grund und die psychi­sche Gesund­heit auf den Umgang mit Gesund­heitsrisiken ein (ebd.). Die hier ange­spro­chene soziale Dimen­sion ist insbe­son­dere für die Soziale Arbeit anschluss­fä­hig und öffnet die Diskus­sion für die Themen der (gesund­heit­li­chen) Chan­cen­gleich­heit und -gerechtigkeit.

Sozi­al­ar­bei­te­risch gepräg­ter Diskurs (noch) nicht mehrheitsfähig
Die bishe­ri­gen Ausfüh­run­gen haben gezeigt, dass (psy­chi­sche) Gesund­heit durch unter­schied­li­che Fakto­ren beein­flusst wird, so auch durch die persön­li­chen und sozia­len Lebens­um­stän­de. Die Zusam­men­hänge zwischen sozia­ler Ungleich­heit und Gesund­heit sind belegt. Gemäss GFCH, dem BAG und der Konfe­renz der kanto­na­len Gesund­heitsdirektorinnen und -direk­to­ren (2020, S. 36-37) weisen sozial benach­tei­ligte Menschen gleich­zei­tig ein erhöh­tes Ausmass an Belas­tun­gen und ein Defi­zit an Ressour­cen auf. Diese Belas­tun­gen und Ressour­cendefizite wirken sich konkret und entschei­dend auf die Gesund­heit einer Person aus. Erkran­kun­gen und Einschrän­kun­gen können sich umge­kehrt auf die soziale Lage einer Person auswir­ken, so zum Beispiel auf den Verbleib oder die Reinte­gra­tion von Menschen mit schwe­ren psychi­schen Erkran­kun­gen in den Arbeits­markt (ebd.).

Das Modell der Gesund­heits­de­ter­mi­nan­ten wiederum ist breit rezi­piert, aner­kannt, empi­risch belegt und inte­grier­ter Bestand­teil von natio­na­len Gesund­heits­stra­te­gien (so beispiels­weise der Natio­na­len Stra­te­gie zur Präven­tion nicht­über­trag­ba­rer Krank­hei­ten). Aufgrund der ganz­heit­li­chen Perspek­tive ist das Modell für die Soziale Arbeit beson­ders anschluss­fä­hig, weil es eine erwei­tere Sicht­weise auf Gesund­heit respek­tive psychi­sche Krank­heit ermög­licht, die die Lebens­welt der Nutzen­den abbildet.

Gleich­wohl domi­niert nach wie vor der Medi­ka­li­sie­rungs­dis­kurs mit der Konse­quenz, dass den äusse­ren Deter­mi­nan­ten des Gesund­heits­de­ter­mi­nan­ten­mo­dells (zu) wenig Beach­tung geschenkt wird. Die Folgen dieses Umstan­des sind, wie bereits erwähnt, Respon­si­bi­li­sie­rungs- und Indi­vi­dua­li­sie­rungs­ten­den­zen (bei verschie­de­nen Akteur*in­nen, beispiels­weise in der Poli­tik) mit nach­tei­li­gen Folgen primär für die Nutzen­den der Sozia­len Arbeit, aber in letz­ter Konse­quenz auch für die Profes­sion der Sozia­len Arbeit, der es bis heute nicht oder zu wenig gelun­gen ist, ihr Fach­ge­biet zu beset­zen und sich mit ihren Deutun­gen und Lösungs­vor­schlä­gen abschlies­send Gehör zu verschaf­fen. Dies führt nicht nur zum von Sommer­feld et al. (2016) konsta­tier­ten Umstand, dass die Soziale Arbeit als eine Hilfs­pro­fes­sion wahr­ge­nom­men wird, sondern ausser­dem zu einer engge­führ­ten Vorstel­lung des Konstrukts psychi­sche Krankheit.

Fazit
Wie voraus­ge­hend darge­legt wird, ist ein biolo­gi­sch-­me­di­zi­ni­sches Verständ­nis psychi­scher Krank­heit heut­zu­tage domi­nant und diskursprä­gend. Dieses Verständ­nis wurde als eng bezeich­net, da es die sozia­len Deter­mi­nan­ten von Gesund­heit und Krank­heit vernach­läs­sigt, was – wie beschrie­ben – Einfluss auf die Posi­tio­nie­rung der Sozia­len Arbeit wie auch auf direkt Betrof­fene ausübt. Denn die Problem­be­ar­bei­tung fokus­siert infol­ge­des­sen stark auf Indi­vi­du­en. Diesen wird ange­ra­ten, über Stress zu spre­chen, durch­zu­at­men oder sich in thera­peu­ti­sche Behand­lung zu bege­ben. Das psychi­sche Wohl­be­fin­den wird so zuneh­mend in die Berei­che der Eigen­ver­ant­wor­tung und Selbst­re­gu­lie­rung trans­por­tiert (Anhorn & Balze­reit, 2016, S. 6). Dies hat auch weit­rei­chende Folgen, wenn es um die Verant­wor­tungs­zu­schrei­bung für Gesund­heit und Krank­heit geht, welche im glei­chen Sinne vermehrt im indi­vi­du­el­len Bereich veror­tet wird. Da Soziale Arbeit gemäss ihrem eige­nen Berufs­ko­dex (2010) immer auch Gesell­schaft und nicht nur Indi­vi­duen im Fokus haben soll­te, ist dieser Entwick­lung etwas entge­gen­zu­hal­ten. Im Folgen­den werden entspre­chende Ansätze skizziert.

Eigene Praxis kritisch reflektieren
Soziale Arbeit ist im Sinne des «social problems work» stets auch selber Teil der Repro­duk­tion etablier­ter sozia­ler Problem­ver­ständ­nisse und deren domi­nan­ten Diskurse (Gro­en­e­mey­er, 2010, S. 17). Folg­lich kann sowohl davon ausge­gan­gen, als in der Praxis auch beob­ach­tet werden, dass die Soziale Arbeit selbst ein eng gefass­tes Problem­ver­ständ­nis psychi­scher Krank­heit in ihren Insti­tu­tio­nen und Praxen reproduziert.

Die eige­nen Praxen gilt es folg­lich immer wieder kritisch auf Repro­duk­tio­nen domi­nan­ter Problem­kon­struk­tio­nen und deren Auswir­kun­gen hin zu reflek­tie­ren. Auch Konzepte wie jenes der Gesund­heits­för­de­rung oder Begriffe wie Empower­ment sollen dahin­ge­hend befragt werden, mit welchen Denk­wei­sen und Diskur­sen sie verbun­den sind oder werden.

Theo­re­ti­sches Wissen als Grund­lage inter­pro­fes­sio­nel­ler Zusammenarbeit
Hilf­reich oder sogar notwen­dig für eine solche Refle­xi­ons­tä­tig­keit ist das Wissen um theo­re­ti­sche Model­le, wie beispiels­weise jenes der Gesund­heits­de­ter­mi­nan­ten. Erfah­run­gen in und Rück­mel­dun­gen aus der Praxis zeigen jedoch, dass solches Wissen weitest­ge­hend fehlt. Dies mag erstau­nen. Denn wie darge­legt, trifft die Soziale Arbeit in vielen Hand­lungs­fel­dern auf Menschen, welche als psychisch belas­tet oder erkrankt verstan­den werden. Über­schnei­dun­gen mit dem Gesund­heits­be­reich sind zudem viel­fäl­tig, und eine koope­ra­tive inter­pro­fes­sio­nelle Zusam­men­ar­beit, welche die Soziale Arbeit nicht als Hilfs­pro­fes­sion versteht, wird gefor­dert. Hier sind nach Ansicht der Auto­rin­nen schon Ausbil­dungs­in­sti­tu­tio­nen in der Verant­wor­tung, zukünf­ti­gen Fach­per­so­nen solche etablier­ten, anschluss­fä­hi­gen Modelle als Argu­men­ta­rium zu vermit­teln. Die Soziale Arbeit könnte auf diese Weise zur Verbrei­tung eines – eigent­lich aner­kann­ten – breit gefass­ten Krank­heits- und Gesund­heits­ver­ständ­nis­ses beitra­gen. Darauf liesse sich wiederum eine eben­bür­ti­gere inter­pro­fes­sio­nelle Zusam­men­ar­beit aufbauen.

Nutzen von Gelegenheitsfenstern
Nebst der Selbst­re­fle­xion und dem Aufbau einer Wissens­ba­sis bekommt die Soziale Arbeit von der Sozio­lo­gie sozia­ler Probleme auch Hinweise dazu, wie sie sich beispiels­weise im Sinne des Claims Making durch geschick­tes Agenda Setting in der öffent­li­chen Aufmerk­sam­keit stär­ker Gehör verschaf­fen und sich in bestehende Diskurse einbrin­gen oder diese beein­flus­sen kann. So handelt es sich bei der domi­nan­ten und diskursprä­gen­den Medi­ka­li­sie­rung um einen rever­si­blen und multi­di­men­sio­na­len Prozess, und die entspre­chen­den Prak­ti­ken können sich ändern: So wie Phäno­mene zu medi­zi­ni­schen Proble­men gemacht werden können, können sie auch wieder aus dem Zustän­dig­keits­be­reich der Medi­zin gera­ten (Peter & Neubert, 2016, S. 275).

Als Möglich­keit bietet sich hier­bei die Coro­na-Pan­de­mie als «Brenn­glas» an. Denn nebst der psychi­schen Krank­heit stand auch das Problem Armut stär­ker im Fokus. Diese Situa­tion kann als Gele­gen­heits­fens­ter genutzt werden, um noch stär­ker auf den Zusam­men­hang zwischen Krank­heit und Armut aufmerk­sam zu machen. Empi­ri­sche Unter­su­chun­gen wie auch theo­re­ti­sche Modelle dazu sind vorhan­den, wie dieser Arti­kel aufge­zeigt hat. Passend dazu spricht Groen­e­meyer (2012, S. 86) davon, bereits etablierte Master­dis­kurse zu verän­dern oder auszu­wei­ten. Psychi­sche Krank­heit und Armut sieht er als solche Master­dis­kurse an, welche über eine längere histo­ri­sche Tradi­tion und grund­sätz­lich hohe Aner­ken­nung verfü­gen. Diese beiden gilt es zu verbinden.

Die Cari­tas ist in der Vergan­gen­heit mit gutem Beispiel voran gegan­gen (Cari­tas Bern, 2019). Denn: Armut macht krank, Krank­heit macht krank – das müsste nun eigent­lich allen klar sein.


Zitier­vor­schlag: Zwah­len, Eva & Martin, Mirjam. (2021). Psychi­sche Krank­heit als sozia­les Problem. Alter­na­tive Problem­kon­struk­tion aus Sicht der Sozia­len Arbeit [Fach­ar­ti­kel aus dem Master­stu­di­en­gang Soziale Arbeit der Berner Fach­hoch­schule BFH]. Berner Fach­hoch­schule - Soziale Arbeit: Bern.


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